Zitronen im Mondschein
offensichtlich genauso wenig im Griff hatte wie er das seine?
»Man spricht jetzt überall vom Krieg«, wechselte die Lasker-Schüler das Thema, nachdem sie mit spitzen Lippen einen ersten Schluck genommen hatte. »Meinen Sie auch, dass es dazu kommen wird?«
»Nach dem Attentat in Sarajewo auf den österreichischen Kronprinzen sieht es so aus, dass sich Österreich und Serbien bekriegen werden«, meinte Ludwig, während er ebenfalls einen Schluck trank. Der Tee schmeckte bitter und sauer, nach der Zitronenscheibe, die jetzt auf der Oberfläche schwamm. Er hasste Tee.
»Österreich hat Serbien ein Ultimatum gestellt. Aber alle Welt geht davon aus, dass die Serben es verstreichen lassen. Und dann geht es los.«
»Ja, das wird geredet.« Ludwig trank seine Tasse in einem einzigen Zug leer, obwohl der Tee eigentlich noch viel zu heiß war. Hinterher war sein Rachen taub, und seine Zunge brannte.
»Wenn aber Österreich im Krieg ist, muss Deutschland eingreifen. Wir sind doch verbündet«, fuhr die Lasker-Schülerfort, die nicht zu merken schien, dass er jegliches Interesse an der Unterhaltung verloren hatte. »Und Russland und Frankreich schlagen sich auf die Seite der Serben. Wie England sich verhalten wird, kann natürlich noch keiner genau sagen.«
»So mag es gehen.« Ludwig stellte die Tasse mit leisem Klirren zurück auf den Unterteller und sah sich um, ob irgendwo eine Uhr hing, aber da war keine.
»Treibt Sie das nicht um, wenn Sie darüber nachdenken?«
»Sicher«, meinte er, doch es stimmte nicht. Er hatte so viel Arbeit mit den Fresken und dann die Sache mit Lilly, da blieb ihm überhaupt keine Zeit für die Politik. Er hatte sich auch noch nie besonders dafür interessiert. Der Kaiser, sein Reichskanzler und die Minister machten ohnehin, was sie wollten, ob man sich darum kümmerte oder nicht.
»Die Generäle scharren mit den Füßen. Sie wollen Blut sehen. Und wer sich nicht rettet, wird umkommen«, sagte Else Lasker-Schüler düster.
Ludwig erhob sich. »Ich danke Ihnen vielmals für den Tee«, sagte er. »Aber ich muss nun wieder.«
Sie stand ebenfalls auf und reichte ihm die Hand. Sie war so klein, so viel kleiner als er. »Ich bin nun auch müde«, sagte sie, obwohl ihre runden dunklen Augen ausgesprochen wach wirkten. »Auf Wiedersehen.«
Erst als er draußen auf dem Flur war, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sich ihre Hände anzusehen.
Er hatte seine Arbeit bei Castenow fast abgeschlossen, es fehlten nur noch zwei Meter unter dem Dach, auf die es ohnehin nicht so sehr ankam, weil kaum einer sie sehen würde.
Am Mittag kam Castenow persönlich, um sein Werk zu begutachten. »Schön, schön«, lobte er Ludwig, während er mit großen Schritten durchs Entree lief. Manchmal starrte er ein Detail besonders konzentriert an, dann ging er wieder an einer Szenerie vorbei, ohne sie zu beachten. Sein geschwungener Schnurrbart bewegte sich dabei auf und ab, als murmelten seine Lippen Dinge, die Ludwig nicht hören konnte. »Durchaus ordentlicheArbeit, junger Mann«, meinte er anerkennend, als sie in den ersten Stock hinaufstiegen, der Unternehmer als Erster und Ludwig hinterher wie ein treues Hündchen. Dann aber blieb Castenow plötzlich stehen.
»Was haben wir denn da für eine Sache«, sagte er. Seine Hände glitten suchend über seine Brust, dann ließ er sie sinken. »Das ist ja … also, was haben Sie sich denn dabei gedacht?« Empört und ein wenig unsicher zugleich drehte er sich zu Ludwig um, der über die graue Schulter des Strumpffabrikanten hinweg auf seine Fresken starrte und nach Worten suchte. Was hatte er sich dabei gedacht? Das fragte er sich nun auch selbst.
Er sah einen Faun mit Bocksfüßen und einem Ziegenkopf, der hinter einer Nymphe her war. Der Faun streckte seine haarigen Hände nach der Fliehenden aus und sein riesiges Glied. Die Nymphe war Lilly, er selbst war der Faun, obwohl das nicht zu erkennen war, er trug ja in Wirklichkeit keinen Ziegenkopf. Aber Lilly war zu erkennen, der lange, geschmeidige Körper und das kurze Haar, sogar grüne Augen hatte er der Nymphe gegeben. Was hatte er sich dabei gedacht? Es war ja wohl offensichtlich.
»Also, das geht natürlich keinesfalls«, murmelte Castenow neben ihm. »Hier kommen ja nun auch unsere Gäste entlang und eine solch pikante Szene …« Er unterbrach sich und räusperte sich. »Sie müssen das entfernen«, begann er dann wieder, und danach stiegen sie die restlichen Stufen bis ganz nach oben unters Dach,
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