Zitronentagetes
VIP-Lounge gehen können, doch sie wollte das Konzert viel lieber mit ihren Freunden erleben. Sie beeilte sich, um den Anfang seines Auftritts nicht zu verpassen.
Die Bühne war bereits in diffuses Licht getaucht, blauer Nebel breitete sich langsam aus. Eine Mundharmonika erklang und jetzt war der Scheinwerfer auf ihren Mann gerichtet. Wie gebannt sah sie zu ihm auf. Josh, ihr Cousin, schob sie fürsorglich vor sich, sodass sie besser sehen konnte.
Und dann begann er. »Liebe hätte sie vielleicht retten können …«
In New York vor über zwei Jahren hatte sie den Song zum ersten Mal gehört. Mittlerweile wusste Charlotte, dass er Maureen, seiner Mutter, gewidmet war. Er hatte sie mit noch nicht mal siebzehn Jahren verloren. Tyler sang ihn immer am Anfang seiner Konzerte.
Dann wurde es rockig mit Desire .
»Yeah«, hauchte Tyler und schon tobten die Fans ringsum. »With or without you« , folgte, dann »Bad« . »I am not afraid to die, but I am afraid to life« , sang Tyler. »Ich habe keine Angst, zu sterben, aber ich habe Angst, zu leben.« Mit diesem Lied hatte er versucht, seine furchtbare Jugend und die Zeit im Gefängnis zu verarbeiten.
Charlotte kroch ein Schauder über den Rücken. Der Song war von seiner neuen CD. Ebenso wie »Where« – »Wohin gehst du, wenn du einsam bist? Lass mich dir folgen!« Das Lied, das er für Don Ingram geschrieben hatte – »Goodbye and thank you so much« - , ließ Charlotte Tränen in die Augen treten.
Elizabeth nahm plötzlich ihre Hand und Joshua legte seine Arme um sie beide. Don war erschossen worden, als er sich der Kugel in den Weg gestellt hatte, die für Tyler bestimmt gewesen war. Don, der Charlotte geliebt hatte.
»Ich freue mich, Ihnen nun eine großartige Sängerin vorstellen zu können«, sprach Tyler in das Mikrofon. »Mrs. Anna Moss.« Schon lief die Sängerin schnurstracks über die Bühne und sang ihre wundervolle Version von » Ruby Tuesday« . Ihr Duett mit Tyler »So I am sorry – I was wrong« , war eine rockige Liebesgeschichte über das Verzeihen. Ihre rauchigen, geheimnisvollen Stimmen passten einfach perfekt zueinander.
Floriane klatschte und rief ihren Jubel laut hinaus. Leider konnte sie nicht sonderlich gut sehen, was auf der Bühne vor sich ging. Immer schob sich irgendjemand in ihr Blickfeld. »Das Konzert ist so irre – was machen die da vorn?«, rief sie Marc zu. Seine Antwort bestand darin, sie zu packen und auf seine Schultern zu stemmen.
»Was soll das?«
»Kannst du jetzt besser sehen?«
»Super. Wie lange hältst du das aus?«
»Noch ein Weilchen.«
»Großartig. Sag Bescheid, bevor du zusammenbrichst.«
*
Summend machte sich Flo im Schönheitssalon ans Werk. Es war bereits Dienstag und noch immer hallte das großartige Konzert in ihr nach. Sie war Charlotte so dankbar. Immerhin hätte sie sich dieses Ticket nie und nimmer leisten können. Wieder dachte sie an das Lied, das O’Brian für seine Mutter komponiert hatte, und polierte dabei die Mischbatterien der Frisiertische. Der Song hatte leise, eindringlich begonnen und war dann schier in einem Protestschrei explodiert, nur um im Anschluss daran wieder abzuebben. Beinahe wie ein Sturm war er über das Publikum gefegt. Livekonzerte waren einfach etwas ganz Besonderes. Eine solche Atmosphäre ließ sich beim besten Willen nicht einfangen oder konservieren.
Der Gospelchor im Hintergrund war eine großartige Idee. Tyler war eben doch ein echter Südstaatler. Er konnte die Musik, mit der er aufgewachsen war, nicht verleugnen. Auch Anna hatte ihren Auftritt hervorragend gemeistert, ebenso wie jedes einzelne Bandmitglied. Orlando Moss kitzelte aus seiner Gitarre das Beste heraus. Manchmal klangen die Töne beinahe bettelnd oder flehend; ein anderes Mal anklagend und fordernd.
Flo wienerte mit ihrem Lappen die Shampoo-Spender.
Als es richtig rockig geworden war, hatte sie sich nicht mehr halten können. »I need your love«, hatte Tyler geröhrt, während der Drummer gekonnt ein eindringliches Stakkato hinlegte. Sie würde noch ihren Enkeln davon erzählen. Ob Tyler im Bett wohl auch zu Charlotte sang: I need your love? Sie schnalzte mit der Zunge.
»Guten Morgen.« Victoria Tanner-de Bourillon betrat den Salon. Flo erinnerte sich an die erste Begegnung mit Joshs Schwester – azurblaues Haar – Bürstenschnitt. Das war mittlerweile drei Jahre her. So lange lebte sie schon in St. Elwine, kaum zu glauben. Jetzt war Vickys Haar wieder genauso schwarz wie
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