Zitronentagetes
Uhr, als der Südturm des World Trade Centers kollabierte. Erst, als um 10.28 Uhr auch der Nordturm in sich zusammenbrach, lösten sich Vicky, Bonny Sue und Flo aus ihrer Erstarrung.
Kein Schluchzen, kein Weinen schüttelte mehr Vickys Körper, sie war mucksmäuschenstill. Eine nahezu unheimliche Ruhe ging von ihr aus.
Flo wandte sich zu Bonny Sue um. Diese drückte ihr ihre Autoschlüssel in die Hand. »Bring sie nach Hause«, flüsterte sie ihr zu.
Zaghaft nahm sie Victorias Arm und zog sie hinter sich her. Auf dem Weg nach Tanner House sprachen sie kein Wort. Was sollte Flo schließlich auch sagen? Vielleicht hatte Vicky gerade ihren Mann verloren, vielleicht aber auch nicht. Gab es nicht immer zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer? Oder war es falsch, hier noch auf ein Wunder zu hoffen?
Flo lenkte den Wagen, als hätte sie nichts anderes im Leben getan. Dabei verabscheute sie es normalerweise, mit fremden Autos zu fahren. Rasch warf sie einen Seitenblick auf ihre Beifahrerin. Vickys Gesicht glich einer Maske von Ausdruckslosigkeit.
Flo begann plötzlich zu zittern, ihre Finger umklammerten das Lenkrad noch fester. Unbeirrt fuhr sie weiter. Als sie die Einfahrt erreichten, öffnete sich wie von Geisterhand das große, schmiedeeiserne Tor mit dem Familienwappen der Tanners. Der alte Doc Svenson hatte den wunderschönen Garten angelegt, doch heute hatte sie keinen Blick dafür übrig.
Sie parkte den Wagen und begleitete Victoria zum Haus. Die Tür ging bereits auf und Olivia Tanner streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. Flo hielt es für das Beste, sofort wieder zu fahren. Sie war schließlich kein Mitglied der Familie und würde nur stören. Nichts lag ihr ferner, als in die Privatsphäre anderer einzudringen.
*
Marc betrat das Apartment und registrierte, dass Amy nicht da war. Fast im gleichen Augenblick entdeckte er den Zettel auf dem Küchentisch.
Hallo Marc, warte heute Abend nicht auf mich. Amy.
Er erschrak, weil er sie nicht mal vermisste. Wohin führte das alles nur?
Im Kühlschrank fand er Tomaten und Mozzarella. Er nahm sich zwei Scheiben Brot, strich Salatcreme darauf und belegte sie mit den Tomaten und dem Käse. Dazu trank er Mineralwasser mit Zitronengeschmack. Er war nicht besonders hungrig und aß mit wenig Appetit.
Es war ein schöner Abend, zu schade, um ihn zu Hause zu verbringen. Kurz entschlossen schlüpfte er in bequeme Freizeitkleidung und lief zum Strand.
Wie immer fiel es ihm beim Laufen leichter, seine Gedanken zu ordnen. Im Büro herrschte eine Art Ausnahmezustand. Josh hatte alle Hände voll zu tun, seine liegen gebliebene Arbeit aufzuholen. Marc half, so gut es ging. Jeder funktionierte momentan nur noch. Man nahm sich zusammen, schwieg vor sich hin, um nur ja kein falsches Wort zu sagen. Viele Familien waren von den Terroranschlägen des elften September betroffen. Die Tochter einer Cousine seiner Mutter hatte ihren Mann in dem Inferno verloren. Er war Feuerwehrmann gewesen.
Inzwischen standen die Fakten fest. Es war 8:45 Uhr, als die Boeing 766, Flug Nummer 11 der American Airlines, in den nördlichen Turm des World Trade Centers raste. Zwischen 8:10 Uhr und 9:30 Uhr hatten Attentäter insgesamt vier Passagierjets auf Inlandflügen entführt. Um 9:05 Uhr krachte Flug Nummer 175 der United Airlines in den südlichen Turm des World Trade Centers. Die Maschine kam von Boston und sollte nach Los Angeles fliegen. An Bord befanden sich fünfzig Passagiere und neun Crewmitglieder. Als die Erkenntnis eines gezielten Angriffs aufkam, wurden sämtliche Zivilflüge eingestellt. Man hatte sogar Abfangjäger gestartet, um New York zu schützen. Die Maschine der American Airlines mit der Flugnummer 77 vom Washingtoner Dulles Airport, mit dem eigentlichen Ziel San Francisco, stürzte um 9:39 Uhr in das Pentagon in Arlington bei Washington. Einhundertfünfundzwanzig Menschen im Gebäude, neunundfünfzig Passagiere und Besatzungsmitglieder sowie fünf Terroristen fanden den Tod. Als Reaktion auf diesen weiteren Angriff wurden gegen 9:45 Uhr unter Androhung eines Abschusses alle Flugzeuge aufgefordert, den nächstmöglichen Airport anzusteuern.
Jaques hatte der Katastrophe wohl nicht entgehen können, denn die vierte Maschine, die in die Terroranschläge verwickelt war, und mit der er ursprünglich fliegen wollte, war der Flug Nummer 93 der United Airlines. Eine Boeing 757 mit vierundvierzig Menschen an Bord. Sie startete in Newark bei New York mit Kurs auf San Francisco
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