Zitronentagetes
wieder schwanger war. Er dachte kurz an seinen dreijährigen Sohn, an sein Weingut in Frankreich, an sein Zuhause in St. Elwine. Panik wollte in ihm aufkommen, dass er seine Liebsten niemals wiedersehen würde. Er schluckte und kniff die Augen zusammen.
Denk nach, befahl er sich.
Es war außerordentlich wichtig, nicht die Nerven zu verlieren. Ganz ruhig! Was war als Nächstes zu tun? Such nach dem Offensichtlichen. Gehe rational vor: Vermeide Unnötiges und teil deine Kraft ein.
Ein Hustenreiz unterbrach seine Gedanken. Leichter Rauch, vermischt mit einem feinen Puder, waberte durch das Treppenhaus. Seine Augen brannten. Noch immer unschlüssig folgte er den vielen Menschen und gelangte ein Stockwerk tiefer. Er wunderte sich, dass alle so diszipliniert und besonnen reagierten. Die meisten hielten sich Tücher oder Kleidungsstücke vor den Mund. Instinktiv fing er eine Frau auf, die auf dem von der Beregnungsanlage nassen Boden ausgeglitten war. Flüchtig lächelnd bedankte sie sich und strich ihren Rock glatt. In Anbetracht der Lage eine völlig unangebrachte Regung.
Er ließ sein Sakko zu Boden fallen, bis es sich voll Wasser saugte, und zog es wieder über.
»Hier könnt ihr auf keinen Fall weiter«, rief jemand. »Ein, zwei Stockwerke tiefer ist alles voller Rauch und Flammen. Geht nach oben – vom Dach aus können euch die Rettungshubschrauber gut erreichen.«
Einige liefen weiter, andere hoben wie auf ein Kommando hin den Kopf und starrten nach oben.
»Ich glaube, der Mann hat recht«, sagte die Frau, die er aufgefangen hatte. »Als damals der Bombenanschlag war, wurde es genauso gemacht. Ich arbeite schon ein paar Jahre im Gebäude.«
Der Staub brannte unbarmherzig in seinen Augen und hatte sich bereits auf die Köpfe der Menschen gelegt. Ihre Haare sahen grau aus.
Ohne weiter nachzudenken, schloss er sich der Gruppe an, die kehrtmachte, um nach oben zu gelangen. Das Atmen fiel schwerer, er hetzte von Stufe zu Stufe.
Unerträgliche Hitze machte sich breit. Als er flüchtig eine der Stahltüren berührte, verbrannte er sich die Finger. Vielleicht war es doch falsch, nach oben gelangen zu wollen. Noch einmal zerrte er sein Handy hervor. Vicky nahm sofort ab.
»Wo bist du jetzt?«
»Ich weiß es nicht genau.«
Ihre Worte drangen nur abgehackt zu ihm durch. »Du darfst nicht nach oben, Jaques. Oben brennt es, ein Flugzeug ist in den Tower gestürzt, in alle beide. Verstehst du, was das heißt? Versuche in die Lobby zu gelangen! Unten sind Hilfskräfte.«
Jaques fluchte. Wie viel Zeit hatte er wohl vergeudet, weil er der Frau geglaubt hatte? »Sitzt du vorm Fernseher?«
»Ja. Bitte, ich flehe dich an, geh runter!«
Sofort machte er kehrt und hastete mehrere Stufen auf einmal nehmend ins nächsttiefere Stockwerk.
»Bist du noch dran?«
Er presste das Telefon noch fester an sein Ohr. »Ja, ich höre dich.«
»Tust du, was ich gesagt habe?«
»Ich laufe bereits nach unten.«
»Das ist gut. Sei vorsichtig!«
»Vicky …«
»Ja?«
»Ich möchte nur noch nach Hause. Zu dir und dem Kleinen.« Er sah sie vor sich, wie sie ein Schluchzen unterdrückte und eine Hand auf ihren noch flachen Bauch legte.
»Das wirst du auch, Jaques. Ich verspreche es dir. Wir holen dich wieder zu uns, glaub mir.«
»Ja …« Die Verbindung brach ab.
Jaques lief und lief und wünschte sich, dass Vicky recht behielt.
Plötzlich hatte er das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen bebte. Die Menschen ringsum fingen an zu schreien. Betonplatten lösten sich und begruben drei Männer unter sich. Jaques drückte sich in eine Ecke, um sich vor weiteren Steinbrocken zu schützen. Das Stahlgerüst des Gebäudes gab ächzende Geräusche von sich, als wollte sich der Tower mit Macht zur Wehr setzen.
In Sekundenschnelle sah Jaques sein Leben wie in einem Film vor seinem geistigen Auge ablaufen. Es war surreal, als hätte er sich aus seinem Körper gelöst und würde als Beobachter über diesem Horrorszenario stehen. Er sah sich in Frankreich, in der Schule, in den geliebten Weinbergen, im Gespräch mit seinen Eltern. Vickys Lachen klang in seinen Ohren, er spürte den Kuss bei seiner Hochzeit und das Gewicht seines Sohnes, den ihm jemand in den Arm legte. »Ich liebe euch«, formten seine Lippen, doch sein Mund blieb stumm.
*
Die Verbindung brach ab.
Vicky begann hemmungslos zu weinen.
Floriane nahm sie fest in die Arme und wiegte sie hin und her. Wie gebannt starrte sie auf den Fernsehapparat.
Es war 10:05
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