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Zitronentagetes

Zitronentagetes

Titel: Zitronentagetes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Orlowski
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begriff Marc, dass er nicht anders hätte handeln können.
    Die Nachtschwester platzte herein. »Noch Licht, Mr. Cumberland? Ist etwas nicht in Ordnung?«
    Ja, alles. Er starrte sie zornig an.
    »Brauchen Sie ein Schmerzmittel für die Nacht?«
    Ihr freundliches Lächeln besänftigte ihn etwas.
    »Es geht schon, danke.« Falls die Kälte in seiner Stimme sie erschreckte, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.
    Sie trat näher und schüttelte sein Kopfkissen auf. Ihr Blick streifte seinen Nachtschrank und fiel auf das Zäpfchen. »Die Spätschicht hat Ihnen sicher gesagt, dass Sie …«
    »Ist ja gut«, fiel er ihr ins Wort.
    »Soll ich Ihnen helfen?«
    Nein! Rasch schüttelte er den Kopf und schnappte sich die kleine Glyzerinrakete. Die Schwester machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Umständlich entfernte er die Folie. Trotzig wie ein bockiges Kind funkelte er sie an, das Kinn vorgestreckt. »Was ist, haben Sie nichts zu tun?«
    »Jede Menge.«
    »Dann gehen Sie. Ich schiebe mir das Ding in den Hintern, und dann lösche ich artig das Licht.« Wie im Kindergarten.
    Sie verschränkte demonstrativ die Hände vor der Brust. »Könnte es sein, dass Sie meiner Kollegin von der Spätschicht dies auch schon gesagt haben?« Sie lächelte nicht mehr. Ihre freundliche Art von vorhin hatte ihm wesentlich besser gefallen.
    »Hören Sie, Sie wollen mir doch nicht wirklich dabei zusehen?«
    »Von wollen kann keine Rede sein. Ich muss lediglich meinen Job ordentlich machen.«
    In Gottes Namen. »Dann tun Sie das.«
    Ungerührt fixierte ihn ihr Blick. Es sah tadelnd aus.
    »Gehört es nicht zu Ihren Aufgaben, die Intimsphäre der Patienten zu wahren? Ich soll hier meinen Hintern entblößen …«
    Sie seufzte ostentativ. »Mr. Cumberland, hätte ich für jeden nackten Popo, den ich gesehen habe, einen Dollar bekommen, wäre ich bereits reich. Ihrer wird auch nicht anders aussehen.«
    »Sagen Sie das nicht.«
    »Warum machen Sie es uns so schwer?«, fragte sie leise.
    Langsam hob er den Kopf. »Ich nehme das Zäpfchen, ich verspreche es.« Er hob die Hand zum Schwur. »Aber bitte … gehen Sie.«
    Die Schwester beobachtete ihn. Er presste seine Lippen aufeinander. Sie schien einen Augenblick lang zu überlegen. »Ich weiß, Sie haben es derzeit nicht leicht.« Kurz berührte sie seine Hand. »Bitte nehmen Sie das Zäpfchen, sonst kriegen wir beide großen Ärger.«
    Er nickte.
    »Dann lasse ich Sie jetzt allein. Gute Nacht.«
    Marc kam ihrer Aufforderung folgsam nach, doch er hasste, was er da tat. Er fühlte sich gedemütigt, und eine würgende Traurigkeit fiel über ihn her. Noch während er sich das kleine Glyzerinteilchen einführte, begann er zu weinen. Stumm. Lautlos. Ohne Vorbehalt.
     
    Er schlief nicht gut in dieser Nacht, schreckte immer wieder hoch und war schweißgebadet. Marc träumte unruhig. Mal von Amy, nach deren Händen er griff, sie aber nicht erreichen konnte. Mal von seinem Vater, der immerfort missbilligend den Kopf schüttelte. Außerdem sah er ein weinendes, kleines Mädchen, das mit dem Finger auf ihn zeigte, und als er schließlich fortlaufen wollte, fiel er hin, weil er keine Beine mehr hatte. Zitternd wachte er auf, das Herz schlug wie ein Vorschlaghammer gegen seine Rippen.
    Marc blinzelte auf den Wecker, es war fünf Uhr. Er schaltete den Fernseher ein und drehte den Ton so leise, dass er gerade so verstehen konnte, was gesprochen wurde. Das konzentrierte Lauschen strengte ihn an, sodass er wieder einschlief.
    Er wachte erst auf, als bereits die Sonne ins Fenster schien. Augenblicklich fielen heftige Bauchkrämpfe über ihn her. Jesus, das Abführzäpfchen hatte doch beim letzten Mal nicht solche kolossale Wirkung gezeigt. Er musste so dringend auf die Toilette, dass sich sämtliche Muskeln verhärteten, um zu verhindern, dass die geballte Ladung im Bett landete. Grundgütiger. Wie sollte er das in aller Eile bewerkstelligen? Wenn man eine Schwester brauchte, war natürlich keine zur Stelle. Typisch. Er erinnerte sich an den Notrufknopf und drückte so heftig darauf, dass sich seine Fingerkuppe weiß färbte.
    Gefühlte sechzig Minuten, statt der drei, die der Pfleger tatsächlich brauchte, vergingen.
    Offensichtlich sprach seine Miene Bände, denn sofort wurde der Rollstuhl herangezogen. Hineinsetzen, zur Badzelle rollen und – o nein, er presste seine verschränkten Arme auf den Bauch. Aber er musste noch vom Rollstuhl auf die Toilette umsteigen, und genau das wurde ihm zum

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