Zitronentagetes
»Himmel, ist dir nicht kalt ?«
»Ich bin so durchgefroren, dass ich mit jedem Tiefkühlhühnchen mitfühlen kann. Bevor wir essen, muss ich mich kurz aufwärmen.«
»Denk dran, keine heißen Vollbäder.«
Verdutzt sah er sie von der Seite an.
Charlotte legte ein paar Scheite Holz im Kamin nach. Sie war erschöpft und müde. Erneut hatte sie einen dieser unangenehmen Schweißausbrüche, und außerdem war ihr leicht übel. Sie setzte sich ihre Spritze, als Tyler plötzlich das Badezimmer betrat.
»Was zum Kuckuck treibst du da?«
Hastig warf sie die Utensilien in den Müll. »Nichts.«
»Wem willst du etwas vormachen? Denkst du im Ernst, ich merke nicht, dass du mich von irgendeiner Sache ausschließt?«
»Aber …«
»Ich weiß, ich habe nicht die Bildung, die …«
Charlotte erschrak bei seinen Worten und vor allem dem ganz und gar sachlichen Tonfall. Sofort legte sie ihre Arme um ihn. »Hör auf damit. So etwas darfst du nicht mal denken. Du bist absolut auf dem Holzweg. Wofür hältst du mich? Hatten wir dieses Thema nicht schon vor einiger Zeit geklärt?«
»Ist das so?«
Sie nickte vorsichtig und sah ihn an. Er legte sein Kinn auf ihren Scheitel. Einige Sekunden standen sie vollkommen regungslos, bis sie plötzlich sagte: »Ich möchte ein Kind mit dir.«
Marc warf sich hin und her. Sein Knie schmerzte, wo auch immer es sich gerade befand, dachte er bitter. Er knipste das Licht wieder an und zog das Schubfach seines Nachtschränkchens auf. Eine Weile musste er darin herumkramen, bis er Flos Zettel endlich fand. Wie bei einem Mantra ging er im Geiste immer wieder die Ziffernfolge durch. Schließlich nahm er das Telefon zur Hand und wählte. Während er dies tat, beschloss er, es exakt dreimal klingeln zu lassen und dann aufzulegen. Doch bereits nach dem ersten Rufton wurde der Hörer abgenommen. »Hallo.«
Die fremde Männerstimme beschleunigte Marcs Herzschlag.
»Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Marc Cumberland, ich …« Plötzlich wusste er nicht mehr weiter. Sämtliche Haare seines Körpers stellten sich auf und sein Rücken wurde von einer Gänsehaut überzogen.
»Ich weiß, wer Sie sind! Der Mann, der meine Frau überfahren hat.«
Die Wahrheit hinter diesem einen Satz traf Marc wie ein Faustschlag in die Magengrube. Er nickte und begriff erst nach einigen Sekunden, dass der andere ihn nicht sehen konnte. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, außer, dass mir alles unendlich leidtut. Immer wieder denke ich darüber nach, wie der Unfall passieren konnte. Eigentlich war ich nicht unaufmerksam, aber …« Marc spürte seinen Herzschlag in der Kehle und hatte Mühe, zu atmen. »Bitte verzeihen Sie mir.« Etwas Warmes, Feuchtes lief über seine Wange. Wann hatte er angefangen zu weinen?
»Sie wollen Vergebung von mir?«, hörte er den Fremden sagen.
Ja, um alles in der Welt.
»Ich bin noch nicht so weit. Bitte verstehen Sie … da ist meine kleine Tochter, sie begreift nicht …«
O nein, bitte. Am liebsten hätte sich Marc die Ohren zugehalten. Er wollte nichts hören von einem traurigen, kleinen Mädchen, das seine Mommy zurückhaben wollte. Für einen Moment schloss er fest die Lider, als könnte er so den Schmerz besser ertragen. Die Gebete seiner Mutter kamen ihm plötzlich in den Sinn: Und vergib uns unsere Schuld …
Zum ersten Mal begriff er, was tatsächlich damit gemeint war. Etwas in seinem Innern zersplitterte und hinterließ eine schreckliche Leere.
»Und Sie, Mr. Cumberland?«
Marc fühlte sich ertappt, öffnete erschrocken die Augen und setzte sich hastig auf. »Wie bitte?«
»Wie geht es Ihnen? Sind Sie schwer verletzt?«
»Nun …«
»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit«, bat Peterson ruhig.
»Ja.«
»Ja, Sie sind schwer verletzt oder: Ja, Sie sagen mir die Wahrheit.«
»Beides.«
Sie schwiegen einvernehmlich.
»Darf ich fragen, was …«
»Mein Bein … es musste … die Ärzte haben es amputiert.« Er hörte die Verzweiflung in seiner Stimme. Es war ihm zuwider, aber er konnte nichts dagegen tun.
»O Gott.«
Irgendwo in Marcs Brust entstand ein Schluchzen, das er mit aller Macht unterdrückte.
»Liza, meine Frau, sie … war ein guter Mensch.« Petersons Stimme zitterte.
»Natürlich.«
»Mr. Cumberland, darf ich Sie besuchen kommen?«
»Das müssen Sie nicht.«
»Bitte.«
»Tja, dann …«
Das Telefonat hatte ihn noch mehr aufgewühlt. Er hätte den Mann nicht anrufen sollen. Doch noch während er dies dachte,
Weitere Kostenlose Bücher