Zitronentagetes
Waschbecken. Eine Rasur täte dir auch gut.«
»Ich bin hier nicht auf einem Schönheitswettbewerb.«
»Alter Miesepeter.«
»Miz Nightingale.«
Flos Angst, die sie im Hinblick auf Marc plötzlich übermächtig verspürte, drückte sich bleischwer auf ihre Brust.
Nach dem Besuch im Krankenhaus holte sie Kevin von den Reinholds ab. Ihre Kollegin und Quiltfreundin bat sie ins Haus. Zum ersten Mal seit Langem wirkte Irene entspannt und gelöst.
»Mutti, Patrick hat mich eingeladen, ich darf mit ihm Silvester feiern. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Ich darf doch, oder?«
»Tja …« Sie warf ihrer Freundin einen Blick zu. Diese nickte zustimmend. »Na dann.«
Die Jungs brachen in Jubelgeheul aus. Bevor sie sich verabschiedete, bat Flo Irene noch um die Anleitung zum »modernen Crazy-Patchwork«.
Flo konnte nicht zur Ruhe kommen. Sie musste sich unbedingt beschäftigen. So nahm sie sich die Crazy-Patchwork-Anleitung und las sie gründlich durch. Gleichzeitig versuchte sie, sich die einzelnen Arbeitsschritte vorzustellen.
Bertha und Kevin sahen sich gemeinsam einen alten Film an. Sie hörte die beiden immer wieder kichern. Ihr selbst war heute einfach nicht danach. Zu sehr hatten Marcs Aggressionen sie erschreckt. Wenn sie nicht gewusst hätte, wie er früher gewesen war, sie hätte ihm keine Sekunde lang mehr ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Aber so … Es wäre zu einfach, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie vortäuschte, keine Zeit zu haben. Wie viele Gesichter Kummer doch haben konnte. Und Einsamkeit, immer wieder Einsamkeit, wohin man auch sah, sie war allgegenwärtig.
Ein Kloß drückte schmerzhaft in ihrem Hals und hinderte sie am Schlucken. Rasch sprang sie auf die Füße und nahm ihre gesammelten Rosenstöffchen zur Hand. Wie um ihnen keinen Schaden zuzufügen, fuhr Flo sachte mit dem Finger darüber und drückte die fein gewebte Baumwolle liebevoll an ihre Wange. Da sie die laut Anleitung notwendige Anzahl an Rosenstoffen nicht aufbringen konnte, komplettierte sie sie einfach mit passenden Kombinationen. Plötzlich verspürte sie den übermächtigen Drang, sofort damit zu arbeiten. Während sie das Bügeleisen auf die höchste Stufe einstellte, kam ihr in den Sinn, dass Marc ihr noch nie ein Weihnachtsgeschenk gemacht hatte. Warum in diesem Jahr?
Da sie sich allerdings so sehr über die Stoffe freute, wollte sie nicht länger über seine Beweggründe philosophieren. Stattdessen arrangierte sie die Stoffe zu einer harmonischen Abfolge. Mit das Beste an diesem Haus war, dass sie das alte Nähzimmer von Emma Svenson nutzen konnte, genau, wie deren Enkelin Charlotte es getan hatte, als sie noch hier wohnte. Im Geiste bedankte sie sich bei den beiden Frauen. Emsig begann sie, die Stoffe in unterschiedlich breite Streifen zu schneiden und diese anschließend wieder zu einem Stück zusammenzunähen. Alle Sorgen fielen von ihr ab, stille Freude und Frieden hüllte sie ein, als würde jemand einen Quilt um sie legen.
Kurz vor Silvester gab es wieder viel zu tun im Schönheitssalon. Offensichtlich hatten viele Damen vor, zum Jahreswechsel fein auszugehen, denn sie ließen sich aufrüschen mit allem, was der Laden zu bieten hatte. Flo kehrte unzählige Haare zusammen, belud Waschmaschine und Trockner im Akkord und füllte verbrauchte Shampoos, Lotionen, Cremes, Festiger, Fixierer, Haarfarben und Tönungen auf. Ihr kam der Vergleich mit einem Chemielabor in den Sinn. Gerade war sie dabei, Kaffeepulver in die Filtermaschine zu schaufeln, als sie hörte, wie Irene am Telefon versuchte, noch irgendwo einen Kundentermin hineinzuquetschen. Während des Frühstücks heute Morgen hatte Bertha ihr nebenbei berichtet, dass sie zu Silvester bei den O’Brians eingeladen war. Die würden einen Tag vor dem Jahreswechsel aus Colorado zurückkehren. Wenn ihr nicht noch irgendetwas einfiel, würde Flo den Silvesterabend allein in dem Haus der Svensons verbringen müssen. Diese Aussicht stimmte sie nicht gerade froh. Natürlich zog sie gar nicht erst in Erwägung, sich bei ihren Quiltfreundinnen oder Kolleginnen selbst einzuladen.
*
»Ich dachte nicht, dass du noch kommst«, sagte Marc leise.
»Ist ganz schön spät geworden, ich weiß.« Flo hob entschuldigend die Schultern. »Immerhin habe ich es dir versprochen. Oder nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelte sie los und berichtete ausführlich von ihrem heutigen Arbeitstag.
Das war die Floriane, die er kannte. Die Angst, sie
Weitere Kostenlose Bücher