Zitronentagetes
mittleren Kind keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Den anderen beiden schon. Das hat zur Folge, dass sowohl Angie als auch Josh so fest in ihrem Elternhaus und dem Ort St. Elwine verwurzelt sind, dass sie nirgendwo anders leben möchten. Ganz anders bei mir. Ich habe mich bereits als Kind gelöst und Jahre in Internaten verbracht. Weil ich es so wollte.«
Liz musterte Vicky skeptisch.
»Frag Josh, wo er am liebsten zu Hause ist«, verteidigte sich Victoria.
»Da könnte was dran sein«, sagte Flo mehr zu sich selbst und sah sich die ausgebreiteten Fotos genauer an. »Hey, das kenne ich.« Sie nahm eines zur Hand. »Das ist die Straße, auf der ich damals meine Autopanne hatte und zu Fuß mit unbekanntem Ziel weitermarschierte. Ich hatte Glück, dass ich in St. Elwine gelandet bin und nicht irgendwo in der hinterletzten Pampa. Während des unfreiwilligen Spaziergangs dachte ich bei mir, die Straße sieht aus, als führte sie direkt in den Himmel. Einen Augenblick lang gibt man sich dieser Illusion hin.«
Vicky zuckte zusammen. »Sag das noch mal.«
»Was denn?«
»Wiederhole die letzten beiden Sätze – oder besser, wir schreiben sie auf .« Da sie sich suchend im Zimmer umsah, deutete Liz an, wo Stift und Notizzettel zu finden waren.
Flo fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während Victoria wie gebannt den kleinen Papierwisch anstarrte.
»Kommen dir öfter spontan solche Formulierungen in den Sinn?«, fragte sie, ohne den Blick von den geschriebenen Worten zu nehmen.
Flo angelte nach einem weiteren Stück Kuchen. »Kann sein. Das ist doch nichts Besonderes.«
»Aber ja doch. Was fällt dir zu diesem Foto ein?«
Floriane betrachtete es eingehend. Es zeigte den Park zwischen den drei Hotels in Hafennähe. »Das langsame Erwachen der Natur ist im Park von St. Elwine besonders eindrucksvoll zu beobachten. Millionen Krokusse verwandeln die Rasenfläche in einen hundert Quadratmeter großen violettblauen Quilt.«
»Fantastisch«, kreischte Victoria. »Hier.« Und hielt ihr bereits eine weitere Aufnahme vor die Nase.
»Fernab der Touristenmeile, in den beschaulichen Vorgärten der Lincoln Street, wird der Höhepunkt der spätwinterlichen Garteninszenierung zelebriert: die Lenzrosen-Blüte.«
»Wow, heißen diese Blumen tatsächlich so oder hast du dir das gerade ausgedacht?«, wollte Vicky wissen.
»Echte Erkenntnisse.« Flo tippte sich seitlich gegen die Schläfe, um auf ein schlaues Köpfchen hinzuweisen. »Diese Sorte da heißt übrigens stinkender Nieswurz.«
»Du scherzt doch.«
»Nein. Ich beschäftige mich bereits seit ein paar Monaten mit Pflanzen und Garten. Der alte Doc Svenson hat viele Ordner, die studiere ich fast jeden Abend. Früher hat er mir viel darüber erzählt. Er sprach von den Blumen, als wären es seine Kinder.«
»Ich wette, du hattest im Deutschunterricht ein A.«
»Bei uns wird in Zahlen zensiert. Aber ja, ich hatte eine Eins und ich liebte es, Aufsätze zu schreiben.«
»Und wieso bist du dann Mädchen für alles im Schönheitssalon?«
Flo hob verwirrt die Schultern.
»Warum nutzt du nicht deine Fähigkeiten und baust darauf auf?«
Victoria meinte es allem Anschein nach ernst. Plötzlich sah Floriane sie intensiv an. »Mit Schreiben Geld verdienen? Ich? Warum eigentlich nicht? Die Frage ist, wie stelle ich das an? Ich habe nicht die geringste Ahnung von dieser Branche.«
»Macht nichts. Du bist engagiert«, platzte Vicky heraus. Bevor Flo nachhaken konnte, gab Victoria ihr eine ausführliche Erklärung ab.
»Bei deinen Worten spüre ich ein erwartungsfrohes Kribbeln, das Blut perlt wie Champagner durch meinen Körper.«
Sofort besprachen die beiden ihre Zukunftspläne, während Liz lächelnd ihr Kind stillte. Hope schmatzte und es sprang tatsächlich ein Hoffnungsschimmer über.
*
Marc zögerte, bevor er auf den Klingelknopf drückte. Doch was nützte das? Er benötigte unbedingt seine persönlichen Sachen: den Laptop, Papiere, Unterlagen und – am wichtigsten – Klamotten und Unterwäsche. Bereits den ganzen Tag hatte er mit sich gerungen und kam stets zur gleichen Erkenntnis. Er musste mit seiner Mutter sprechen und das Zeug abholen. George hatte ihm gestern angeboten, er könne bei ihm in Baltimore wohnen – als Übergangslösung. Das hatte ihn überrascht, aber er hatte dieses, wenn auch freundlich gemeinte Angebot ablehnen müssen. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er wollte weder mit seiner Mutter noch mit seinem Vater unter
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