Zoë
endlich still.
6
Sobald ich von der Schule kam, Tag für Tag, ging ich in den Wald, lauschte, suchte nach Zeichen von dem weißen Reh und seinem Freund. Nach zwei Wochen hatte ich den Wald in fast alle Richtungen erkundet, nach Osten, Süden und Westen, und nichts als Bäume gefunden. Nun fehlte nur noch der Norden.
An einem kühlen, klaren Freitagnachmittag machte ich mich dorthin auf. Falls ich bis Sonnenuntergang nichts gefunden hätte, blieb mir noch das Wochenende, um meine Suche auszuweiten. Der Oktober hatte gerade erst begonnen, doch in diesem Jahr war der Altweibersommer früh zu Ende gegangen, und die Luft war schon spürbar kälter. Der Winter stand vor der Tür.
Im Gehen schaute ich mich nach dem Kater um. Ich hatte nicht viel von ihm gesehen, seit ich zur Schule ging. Die ganze Zeit über waren Lastwagen gekommen, hatten Material für Henry gebracht und seine fertigen Skulpturen mitgenommen. Vom Fressen in seinem Napf fehlte an manchen Tagen gerade mal ein kleines bisschen, an anderen Tagen hatte er sie überhaupt nicht angerührt. Ich hoffte, es ging ihm gut.
Henrys Grundstück endete in der Nähe von dem, was Fred immer als »die alten Bäume« bezeichnete. Vermutlich waren das diese Bäume ganz im Norden. Hier waren die Bäume älter und dicker, manche hatten den Umfang von LKW-Reifen. Dadurch kam man hier leichter voran, denn im tiefen Schatten dieser Riesen wuchs nicht mehr viel. Herabgefallene Äste verrotteten inLaubhaufen, doch diese Haufen waren so ordentlich, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Natur selbst sie geschaffen hatte. Diese älteren Waldteile wirkten, als würden sie regelmäßig gehegt, und nicht nur das – als würden sie geliebt, so kamen sie mir vor.
Kurz vor Sonnenuntergang, als ich schon fast kehrtmachen wollte, hörte ich auf einmal Geraschel auf einer Seite und drehte mich um. Auf einer kleinen Anhöhe neben mir stand das weiße Reh und hob die rosa Nase zur Begrüßung. Dieses Mal war es weiter entfernt stehen geblieben, vielleicht zwanzig Meter, doch ängstlich wirkte es nicht.
Ich stand ganz still, um es nicht zu vertreiben. Es zuckte mit den Ohren und drehte sie zu beiden Seiten, um Geräusche aus dem Wald aufzufangen. Immer wieder blickte es über die Schulter zurück, und mir war klar, dass sein Gefährte in der Nähe sein musste, auch wenn sonst nichts zu sehen oder zu hören war, was auf ihn hindeutete.
Wieder heulte laut eine Eule, und das Reh wandte leicht den Kopf in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Als die Eule ein zweites Mal heulte und dann noch ein drittes Mal, lauter und eindringlicher als zuvor, sah das Reh wie entschuldigend kurz zu mir herüber, bevor es widerwillig zwischen den Bäumen davoneilte, auf den klagenden Laut zu.
Dieses Mal war ich nicht so dumm, es einholen zu wollen, trotzdem lief ich ihm eilig nach und behielt es so lange wie möglich im Auge. Nach ein paar hundert Metern blitzte etwas hinter einer Baumgruppe hervor. Beim Näherkommen erkannte ich, was es war: ein alter Wohnwagen wie eine riesige, in die Länge gezogene Silberkugel. Ich klopfte, doch niemand antwortete, und so spähte ich hinein. Der Wagen war schmutzig und voll mit alten Spinnweben, Kiefernnadeln und trockenem Laub, ansonsten warer komplett leer. Kein Geschirr in den eingestaubten Küchenschränken oder auf den Borden, keine Polster auf den Sitzbänken, die wohl den Wohnraum darstellen sollten, keine Vorhänge vor den Fenstern, nicht einmal ein Bleistift auf dem Servierwagen rechts vom Eingang. Draußen gab es weder eine Straße noch einen Pfad, vermutlich war der Wohnwagen vor Jahren hergeschleppt worden, als der Wald noch lichter war. Doch nun lebte hier schon lange niemand mehr.
Ich spähte am Wohnwagen vorbei. Hinter einer Reihe schlanker Kiefern, die eine Art Sicht- und Windschutz bildeten, entdeckte ich die Dachkante eines Hauses. Ich ging um die Bäume herum, um nachzusehen, und stieß auf eine Holzhütte. Die Wände bestanden aus dicken, an den Enden eingekerbten Holzbalken, das Dach aus silbergrauen Schindeln. Auf der einen Seite der Hütte ragte ein gemauerter Kamin auf, auf der Vorderseite war eine Veranda, gerade groß genug für zwei kaputte Stühle und ein rostiges Motorrad, dem das Hinterrad fehlte.
Das Haus als solches sah alt aus, doch einige Teile schienen neuer und ungewöhnlich konstruiert. Die Fensterrahmen waren aus unterschiedlichen Holzstücken geschnitzt und wie ein Puzzle zusammengesetzt. Die Fensterkreuze hatten alle
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