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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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ich auf, um hinten im Klassenzimmer meine Stifte zu spitzen. So konnte ich Hargrove beobachten, ohne dass er es mitbekam. Er hätte sich schon ganz umdrehen müssen, um mich auch da hinten noch anzustarren. Ich nahm mir erst mal ein Papiertaschentuch aus dem Regal am Fenster und blieb dann da stehen, um mir die Nase zu putzen. Es schien ihn zu stören, dass ich nicht mehr in seinem Blickfeld war. Als ich wieder zurücklief und mich von hinten Hargroves Platz näherte, machte er sich ganz steif, knallte sein Notizbuch zu und spielte auffällig mit seinem Stift. Ich stand direkt hinter ihm und spitzte meine Stifte – einen, zwei, drei –, so langsam es ging.
    Hargrove sah gut aus, aber er wusste es auch. Sein Haarschnitt war kurz und akkurat, seine Kleidung teuer und immer frisch gebügelt. Nur dieses Notizbuch, das er ständig mit sich herumtrug, war alt und voller Eselsohren und passte überhaupt nicht zum Rest.
    Ich schlenderte an ihm vorbei zu meinem Platz zurück. »Glotzt er immer noch ?«, fragte ich Shelby, ohne mich umzudrehen.
    Sie schaute kurz nach hinten und nickte. »So komisch hab ich den noch nie gesehen.«
    Ich fuhr auf meinem Stuhl herum und funkelte Hargrove an.Damit hatte er nicht gerechnet, und er senkte den Blick, aber nur einen Moment lang.
    »Gibt es irgendein Problem, Zoë?«, fragte Ms Avery.
    »Nein, Ma’am«, antwortete ich und schnitt Hargrove schnell noch eine finstere Grimasse, bevor ich mich wieder umdrehte. »Alles in bester Ordnung.«
    Hargrove hörte trotzdem nicht auf. Wir hatten Rechtschreibung und anschließend stilles Lesen, und die ganz Zeit starrte er mich an. Ebenso am nächsten Tag und am übernächsten. Ich musste nicht einmal mehr Shelby fragen, wenn ich wissen wollte, ob er mich ansah, ich spürte, wie seine Blicke mich durchbohrten, und am Ende der Woche reichte es mir endgültig.
    Am Freitag packte ich schon früh meine Sachen zusammen und war als Erste draußen. Hargrove war wie immer der Letzte. Ich wartete auf ihn am Eingang zum großen Flur und stellte mich ihm in den Weg, sobald er um die Ecke bog. »Kannst du mir mal sagen, was du eigentlich hast?«, blaffte ich ihn aus gerade mal fünf Zentimetern Entfernung an.
    Er wollte mir ausweichen, doch ich versperrte ihm den Weg. Er lief rot an, aber seine Miene wurde ganz hart. Er versuchte, wegzukommen, doch ich war schneller.
    »Hör auf, mich immer so anzuglotzen«, fuhr ich ihn an.
    »Du bist doch verrückt«, sagte er. Was er noch sagte, kam so leise, dass ich es nicht verstehen konnte.
    »Was war das gerade?«, fragte ich.
    Unsere Blicke trafen sich. »Genau wie deine Mutter. Die hat sich ja wohl selbst ins Jenseits befördert.« Dieses Mal sagte er es laut und richtig gehässig, und dann drängte er an mir vorbei und stieß mich dabei seitlich gegen die Wand. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er zum Hauptausgang hinaus.
    Das hatte gesessen. Ich musste mich erst mal an die Wandlehnen. Ich hatte geglaubt, außer mir und Henry wüsste niemand da.s mit Mama, vielleicht noch Fred und Bessie, aber die hätten doch niemals Hargrove gegenüber ein Wort darüber verloren. Mama war wirklich nicht die Tollste gewesen, aber es passte mir überhaupt nicht, dass irgendein hochnäsiger Vollidiot, der von nichts eine Ahnung hatte, so über sie redete.
    Gerade kam der Schulleiter, Mr Reardon, den Flur entlang. Er stank nach den Zigaretten, die er heimlich im Hausmeisterkabuff qualmte. Seine Einstellung gegenüber Schülern und ihrem Verhalten war: Alles schon gesehen, alles schon gehört, alles schon selbst gemacht. Er leitete die Schule mit gesundem Menschenverstand und einem staubtrockenen Humor. Ich mochte ihn, und ich spürte, dass auch er mich mochte.
    »Wie sieht’s aus, mein Mädchen?«, fragte er lächelnd. »Ist die Welt freundlich zu dir?«
    »Gut sieht’s aus«, log ich. »Könnte nicht besser sein.« Dasselbe sagte ich zu Fred, der vor der Schule auf mich wartete, und auch zu Henry, als der mich beim Essen fragte, wie es in der Schule lief.
    Von dem Tag an gab es nur noch eines, was die Schule erträglich machte: Ms Avery war gar nicht so beschränkt, wie ich erst dachte. Als ich am Montag an meinen Platz kam, lag da ein Buch, zusammen mit einem Briefchen: Ich dachte, dies könnte dir gefallen – oder kennst du es vielleicht schon? Wenn es dir gefällt, kannst du noch mehr haben. E. Avery . Das Buch hieß Sie kamen wie die Schwalben , der Autor war William Maxwell. Ich hatte es nie gelesen. Ich fing auf der

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