Zoë
ich mir eine Schutzbrille von einem Haken an der Wand, um mir die neue Arbeit ansehen zu können. Sie war fast genauso groß wie ich und aus stark glänzendem, silbernen Metall, in dem das Licht sich fing und widerspiegelte. Die untere Hälfte bestand aus zwei Rohren, die wie Beine aussahen, wie die Beine von jemandem, der ganz schnell rennt. Das eine vorgestreckt, das andere unter dem Knie abgeknickt. Der obere Teil war wie ein Torso mit weit geöffneten Armen, darauf saß ein Kopf mit einem nach oben gerichteten Gesicht und kupferfarbenem wehendem Haar. Schon von diesem Anblick ging es mir gleich besser. Noch nie hatte ich gesehen, dass Henry etwas so Freies, so Fröhliches gemacht hatte, und ich fand es richtig schade, dass er es nach New York schicken würde.
Ich musste an die Aufgabe denken, die Ms Avery mir für die Weihnachtsferien gestellt hatte. Sie hatte mir ein neues Tagebuch überreicht und mich gefragt, was ich von Henrys Skulpturen hielt.
»Deinen Vortrag fand ich wirklich schön«, sagte sie, »aber du hast an keiner Stelle gesagt, ob dir seine Skulpturen eigentlich gefallen.«
»Sie sind ganz okay«, antwortete ich ihr.
»Aber sie sprechen dich nicht wirklich an?«, fragte sie weiter, so als wäre mir etwas entgangen, eine stumme, aber wichtige Form der Auseinandersetzung.
Ich gab ihr eine ehrliche Antwort. »Eher nicht.«
Henrys Zeichnungen fand ich ganz gut, vor allem die vonseiner verstorbenen Frau. Ich wusste auch, dass er sehr viel Zeit und Energie und intensives Nachdenken in seine Skulpturen steckte. Henry war ein guter Handwerker. Trotzdem – seine Skulpturen sprachen mich nicht an. Daraufhin meinte Ms Avery, ich solle mir all die neuen Arbeiten ansehen, die Henry für die Ausstellung anfertigte, und mir eine Skulptur aussuchen, die mein Innerstes erreiche, mir ans Herz ginge oder meinen Namen spräche. Diese hier war es, dachte ich, während ich ihre Lebendigkeit bewunderte. So langsam begriff ich, was Ms Avery damit gemeint hatte, als sie mir sagte, ich solle so lange hinschauen, bis ich tatsächlich etwas sah .
Fast eine Stunde lang stand ich da, sah Henry beim Schweißen zu und wartete darauf, dass er mich bemerkte, damit wir miteinander reden konnten. Ein paarmal habe ich sogar seinen Namen gerufen, doch der Lärm der Flex übertönte meine Stimme, und Henry nahm außer seiner Arbeit nichts wahr. Unser Gespräch würde eben warten müssen. Jetzt wäre ich bereit gewesen, mit ihm zu sprechen, aber dieses Mal war er es nicht.
Ich überließ ihn seiner Arbeit und nahm meine unruhigen Gedanken mit nach draußen, um einen Blick in den Kriechkeller zu werfen. Vielleicht war Herr K. ja dort. Aber während ich mich noch seitlich unters Haus bückte, hörte ich auf der Vorderseite jemanden mit barscher Stimme Henrys Namen rufen. Gleich darauf kam Fred aus dem Haus marschiert und fuhr denjenigen an, der da in der Einfahrt stand und herumgrölte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich muss mit Henry sprechen«, antwortete eine Stimme. Eine gemeine Stimme, die ich irgendwoher kannte.
»Ich kümmere mich um Dr. Roysters Angelegenheiten«, sagte Fred.
»Das hier ist privat, es geht um das Mädchen.«
Mir lief es kalt über den Rücken, so als hätte jemand Eiswasser über mich gekippt. Ich wurde starr vor Schreck. Ray.
»Ich schlage vor, Sie gehen jetzt besser«, sagte Fred.
Ray ließ sich nicht abwimmeln. »Ich bin doch eben erst angekommen. Und warten tu ich lieber im Haus drinnen. Sie setzen sich jetzt mal in Bewegung und sagen Henry und dem Mädchen, dass Ray Sikes hier ist.«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Freds Stimme war scharf wie ein Rasiermesser.
»Ach ja?«, knurrte Ray.
»Allerdings«, sagte Fred. »Und was ich von Ihnen weiß, gefällt mir nicht im Geringsten. Sie gehen jetzt besser, sonst muss ich den Sheriff rufen.«
»Wie Sie meinen«, antwortete Ray. »Aber ich habe hier etwas, was die beiden interessieren dürfte.«
»Das wage ich zu bezweifeln.«
»Sie haben doch keine Ahnung, mit wem Sie reden. Ich hab das Mädchen großgezogen.«
»Mein Eindruck ist eher, dass das Mädchen sich selbst großgezogen hat«, sagte Fred. »Sie haben hier keinerlei Rechte. Kein einziges. Sehen sie zu, dass Sie wegkommen.«
Mir wurde das Herz weit, als ich das hörte.
»Da täuschen Sie sich aber gewaltig, wenn Sie meinen, ich hätte keine Rechte«, sagte Ray.
»Das glaube ich nicht.«
»Jedenfalls gehe ich nirgends hin, bevor ich nicht mit ihr oder Henry geredet hab.«
Ich hörte, wie
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