Zoë
willst, dann erzähl ich’s dir. Fast ein Jahr war ich mit deiner Mama zusammen, und die erste Hälfte war auch ganz passabel, da hatten wir ’ne Menge Spaß zusammen. Sie war wirklich hübsch, und solange sie ihren Willen kriegte, war es auch nett mit ihr. Aber das zweite Halbjahr war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Was sie anging jedenfalls. Aber ich bin ja auch nicht wegen ihr geblieben. Sondern wegen dir.«
»Wegen mir?«
Er nickte. »Ich hab mir immer gesagt, egal, wie schlimm das alles für mich war, ihre Sauferei und die Drogen, ihre Lügen und Gemeinheiten und dieser ganze Wahnsinn, für dich war es dein ganzes Leben, das einzige, das du kanntest. Einmal bin ich sogarzu ’nem Anwalt gegangen und hab gefragt, ob ich dich irgendwie von ihr wegholen könnte, aber der hat mir bloß ins Gesicht gelacht und gesagt: ›Null Chance!‹ Wörtlich. Also, was ich damit sagen will: So schlimm es auch war, was sie gemacht hat – du bist dadurch von ihr weggekommen. Das hat dich zu Henry gebracht.«
Da habe ich es auf einmal vor mir gesehen, wie mein Leben jetzt aussähe, wenn Mama noch lebte. Sie wäre noch immer krank und würde nichts dagegen tun, mal wäre sie im Krankenhaus, dann mal wieder draußen, sie würde einen gruseligen Freund nach dem anderen anschleppen, immer auf der Flucht vor dem Finanzamt oder der Polizei, immer würde sie nur an sich denken. Ich dachte an Henry, wie er sich zwischen mich und den Jäger mit seinem Gewehr gestellt hatte, wie mein Leben ihm wichtiger war als sein eigenes. Nie hatte Mama so was getan.
»Henry ist ein guter Mensch«, sagte Harlan. »Anders als so mancher.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Vielleicht hat der Padre ja recht«, fuhr er fort, und auf einmal hatte seine Stimme eine Schärfe, die sie vorher nicht hatte. »Er sagt immer: ›Wo Leben ist, ist Hoffnung.‹ Vielleicht stimmt das ja. Selbst wenn du nicht hier wärst bei diesen guten Leuten, selbst wenn du irgendwo im Heim wärst oder ganz allein auf dich gestellt – ohne sie wärst du immer noch tausendmal besser dran. Das hört sich jetzt vielleicht schlimm an für dich, aber ich glaube einfach, dass es so ist. Sie hat dir eine zweite Chance gegeben, vielleicht war das das Beste an ihr. Vielleicht ist das das Gute an ihr, wonach du suchst. Kann ja sein, dass sie sie dir nicht mal mit Absicht gegeben hat, diese Chance, aber im Grunde ist das doch auch egal, oder?«
Ich stand da und starrte ihn an. »Bist du echt zum Rechtsanwalt gegangen?«, fragte ich ihn.
»Hat mich einen ganzen Wochenlohn gekostet.«
»Und du bist wirklich nur wegen mir geblieben?«
»Bis sie mich rausgeschmissen hat.«
»Das habe ich nicht gewusst.«
Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt weißt du’s.«
»Danke, Harlan«, sagte ich. »Lass dir ruhig Zeit, bevor du wieder weggehst. Die Hütte sieht übrigens richtig gut aus.«
Er lächelte schief. »Danke, nett von dir.«
Harlan ging zum Haus zurück, um sich von Henry ein paar Werkzeuge zu borgen. Ich flitzte zum Wohnwagen, wo Herr Kommkomm zusammengerollt lag und tief und fest schlief.
»Und du bildest dir ein, die Menschen zu kennen.«
Zwei Minuten später waren sie da. Ich hörte sie, noch bevor ich sie sah. Beide waren sie extrem vorsichtig und wachsam, vor allem er. Ich sah seine Arbeitsstiefel und die Aufschläge seines abgerissenen Overalls und gleich dahinter die schlanken Beine und aschgrauen Hufe. Er schöpfte Wasser aus dem Brunnen und stellte den Eimer vor das Rehkitz. Das gefiel mir sehr. Als es den Kopf senkte, um zu trinken, erspähten die rosa Augen mich unter dem Wohnwagen. Es schien nicht irritiert. Ihn sah ich nur von den Knien abwärts, aber immerhin sah ich, dass er mit dem Gesicht zur Hütte dastand. Ich vermutete, dass er die Verbesserungen in Augenschein nahm. Er ging hinein, aber nach wenigen Minuten kam er wieder heraus und blieb stehen, das Gesicht in meine Richtung gewandt, so als wüsste er schon lange, dass ich da war. Zentimeter für Zentimeter kroch ich unter dem Wohnwagen hervor und weckte damit Herrn Kommkomm auf. Der warf einen einzigen erstaunten Blick auf den Jungen und das Reh und schoss in den Wald davon, in Richtung auf Henrys Haus. Ich verhielt mich ganz still, damit die beiden verstanden, dass von mir keine Gefahr für sie ausging.
Der Junge wirkte vollkommen entspannt. Er sah kaum anders aus als an Erntedank: von Kopf bis Fuß eingedreckt, ohne dass es ihm etwas auszumachen schien. Es hatte den Vorteil, dass er sich
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