Zoë
jenen Samstag denken musste, als ich in die Bücherei gegangen war, um zu lesen und um wegzukommen von ihr und Ray und dem ganzen Hickhack. Den ganzen Morgen über hatten sie sich schon gestritten, und irgendwann stürmte Ray aus dem Haus, und sie brüllte ihm hinterher: »Dieses Mal mach ich’s wirklich, du wirst schon sehen!« Ich hatte absolut keine Lust gehabt, den ganzen Tag um sie rum zu sein und mir ihr Geschimpfe und Gejammer über diesen verhassten Ray anzuhören, also bin ich zur Bücherei gegangen und so lange dort geblieben, wie es ging. Aber als ich nach Hause kam, fuhr mit gellender Sirene der Rettungswagen durch unsere Straße, überall standen Polizeiwagen, und Ray brüllte wütend herum, es sei alles nur meine Schuld, dass Mama tot sei.
Als Henry hereinkam, war ich so in meine Erinnerungen versunken, dass ich ihn erst gar nicht hörte.
»Alles in Ordnung mit dir?« Ich fuhr erschrocken hoch. Henry lehnte am Türrahmen.
Ich antwortete nicht. Henry setzte sich neben mich, legte die Füße auf den Couchtisch und wartete. Er folgte meinem starren Blick durchs Fenster hinaus zum Karton im Hof.
»Es war so ein schöner Tag«, sagte ich. »Ein richtig schöner Tag. Aber jetzt geht es mir total mies.«
»Das ist die Wirkung, die Ray auf Menschen hat«, sagte Henry, so als spräche er aus eigener Erfahrung. »Mir geht’s genauso, dabei war ich jetzt so lange im Atelier.«
Ich schüttelte den Kopf. »Durch Rays Auftritt ist alles wieder hochgekommen.«
»Alles ist eine ganze Menge«, sagte Henry sanft.
»Und ob. Und es wurmt mich, dass es mich so wurmt, verstehst du?«
»Allerdings.«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Wir sahen beide weiter zum Karton im Hof.
»Ich finde es schlimm, dass er da draußen steht«, sagte ich. »Aber noch schlimmer finde ich, dass ein Teil von mir wissen will, was da drin ist.«
»Ich weiß«, sagte Henry, ohne den Blick vom Fenster zu lösen. »Aber gleichzeitig ist er verseucht mit Ray und deiner Mama und ihrem Wahnsinn, mit allem. Hab ich recht?«
Ich sah Henry an. Er verstand wirklich was von diesen Dingen.
Im selben Moment sprang Herr K. von der Veranda in den Hof hinunter und landete auf dem Karton.
Henry und ich sahen erst den Kater an, dann einander. Henry streckte mir eine Hand hin. »Komm.«
Es war dann gar nichts Großartiges im Karton. Nichts als ein Haufen muffig riechender alter Nachthemden und Morgenmäntel, Schals und billiger Schmuck. Kein einziges Teil, von dem ich mit absoluter Sicherheit hätte sagen können, dass es Mama gehört hatte.
Die Vogelscheuche war Henrys Idee, aber ich fand sie auf Anhieb gut. Keine Stunde später hatte er ein Metallgestell zusammengeschweißt, mit einem Zahnrad als Kopf obendrauf. Wie ein lebensgroßes Strichmännchen sah es aus, außer dass die Arme nach vorn ausgestreckt waren. Ans Ende der Arme schweißte Henry noch zwei Hufeisen – meine Idee! –, und zwar mit der offenen Seite nach oben, damit das Glück nicht herausfiel. Wie zwei Hände, die »Stopp!« sagen, sahen sie aus. Eine Metallstange bildete Hals, Wirbelsäule und Unterkörper, und das Ganze steckteHenry in einen runden Ständer, den er aus einem hohlen Rohr geschweißt hatte.
Er rollte das Gestell in den Hof und zog ihm die acht oder neun Nachthemden und Morgenmäntel über, wobei er den hauchdünnen rosa, lila, blauen und grünen Stoff so drapierte, dass Ärmel und Rockteile im Wind flatterten. Den Schmuck hängte ich an die Hufeisen, den mochten sich die Raben für ihre Nester stehlen, und die Schals wickelte ich rings um den Kopf, sodass die losen Enden im Wind wehten wie Haare.
Als ich mit allem zufrieden war, rollte Henry unser Werk ganz ans Ende des Hofs, gleich an die Einfahrt, sodass jeder, der zu uns kam, es gleich sehen musste. Dann rief er Fred und Bessie an und auch den Padre, den er bat, die Vogelscheuche mit Weihwasser zu taufen. Alle drei kamen gutgelaunt an, mit Harlan im Schlepptau. Der Padre hatte sogar sein Messgewand übergezogen. Wir standen alle im Kreis herum, der Padre besprengte die Vogelscheuche mit Öl und Weihwasser und sagte dazu: »Hinaus das Alte, herein das Neue!«, und alle jubelten und klatschten in die Hände.
Schön war es, schöner als alles, was je von Mama gekommen war.
Harlan legte den Kopf mal auf die eine Seite, mal auf die andere. »Wie genau würdest du das jetzt nennen?«, fragte er Henry.
»Da musst du schon die Künstlerin fragen«, sagte Henry und sah mich an. Alle sahen mich an.
Ich dachte
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