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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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kaum von den Bäumen und der übrigen Natur abhob. Die langen schwarzen Haare waren im Nacken zusammengebunden und übersät mit Laub. Er sah aus wie vierzehn, vielleicht fünfzehn. Seine dunklen Augen betrachteten mich aufmerksam. Dabei fielen mir die bläulich-violetten Ringe darunter auf, so müde sah er aus, wie jemand, der lange nicht geschlafen hat.
    Lange sahen wir einander an. Ich überlegte, was ich zu ihm sagen könnte, aber ich hatte keine Ahnung, wie man eine Unterhaltung anfängt mit einem völlig Fremden, den man trotzdem schon kennt.
    »Ich bin Zoë«, sagte ich schließlich reichlich einfallslos.
    Er nickte. Vermutlich hatte er an Erntedank gehört, wie Henry und die anderen meinen Namen gerufen hatten.
    »Ich lebe ein Stück südlich von hier, bei meinem Onkel Henry, dem Typ mit dem Bart, der die ganzen Metallsachen macht, die bei uns im Hof und im Garten rumstehen.«
    Der Junge nickte wieder. »Ziemlich wilde Sachen.«
    »Ziemlich wilde Sachen«, wiederholte ich und lächelte. »Ich komm schon seit einer ganzen Weile regelmäßig her.«
    »Hab dich gesehen, als du angekommen bist«, sagte er, und so wie er guckte und wie seine Stimme sich anhörte, schien ihn das zu amüsieren. »Und seitdem fast jeden Tag.«
    »Tatsächlich?«, fragte ich. »Also, ich hab dich nicht gesehen, nicht vor Erntedank, aber ein paarmal habe ich gespürt, dass du da warst, wenn ich dein Reh gesehen habe, nur dass ich –«
    »Hast du nicht!«, fiel er mir spöttisch ins Wort. Er griff nach dem Riemen seiner Umhängetasche und setzte sie ab. Dann zog er etwas aus der Hosentasche und setzte sich im Schneidersitz aufdie Erde. Er öffnete ein Taschenmesser und begann, an einem kleinen Stück Holz herumzuschnitzen. »Du bist ja nicht einmal aufgewacht, als du dich nachts verlaufen hast und ich dich nach Hause getragen habe. Hab ich recht, Schwesterchen?«, fragte er mit einem Blick über die Schulter zu seinem Reh.
    »Du?«, fragte ich. »Aber – ich dachte …«
    »Oder das andere Mal, als du so krank warst und ich auf dich aufgepasst habe. Da bin ich auch ins Haus rein und die Treppe hoch, keiner hat was gemerkt.«
    »Aber das hab ich doch geträumt!«, rief ich, und mein Herz schlug schneller.
    »Oder an dem Tag, als diese beiden Jungen hier nach dir gesucht haben!«
    »Nach mir?«
    Er nickte. »Aber denen hab ich’s gezeigt!« Er lachte lauthals, und ich sah ihm an, wie stolz er war.
    Ich merkte, wie ich leicht rot wurde, weil ich mich dumm und unbehaglich fühlte. »Du scheinst ja allwissend zu sein«, sagte ich leicht gereizt. »Nichts kann man dir sagen. Nicht das kleinste bisschen.«
    Ich setzte mich und verschränkte die Hände im Schoß. Auf einmal flog ein Schatten von Angst und Sorge über sein Gesicht. Vermutlich um das zu verbergen, schnaubte er verächtlich, dann drehte er sich zu dem Reh um, so als hätte es ihn gerade etwas gefragt. »Schwesterchen will wissen, was du da immer zu lesen und zu kritzeln hast.«
    Ich sah das Reh an. Seine Ohren zuckten, unsere geballte Aufmerksamkeit schien es zu verwirren, doch ansonsten schien ihr rosa Kopf leer wie ein ausgehöhlter Kürbis.
    »Meist lese ich Geschichten oder schreibe selbst welche«, sagte ich.
    »Wir mögen Geschichten, stimmt’s?«, sagte er mit einem kurzen Blick auf das Reh. Dann beugte er sich leicht zu mir vor. »Sie hat’s nicht so mit dem Schreiben«, flüsterte er mir zu. »Nie gelernt.«
    »Vielleicht hat sie Hunger?«, fragte ich vorsichtig. »Ich habe Brote mitgebracht und Obst.«
    Der Junge drehte sich wieder zu dem Reh um und fragte. Die rosa Nase des Tiers zuckte. »Etwas essen könnte sie schon.«
    Ich stand langsam auf, um die Tüte zu holen, die Harlan hinter die Wohnwagentür gestellt hatte, und schob sie dem Jungen hin. Er öffnete sie und nahm zwei Brote und zwei Äpfel heraus, dann schob er mir die Tüte wieder hin. Mit seinem Messer teilte er die Äpfel für Schwesterchen in Scheiben und gab sie ihr, eine nach der anderen. Erst danach aß er selbst etwas. »Danke«, sagte er.
    »Gern geschehen«, antwortete ich. »Ich danke dir. Euch beiden.«
    »Wofür?«
    Dieses Mal sah ich ihm bei meiner Antwort direkt ins Gesicht. »Dafür, dass ihr hier ein Auge auf alles habt.«
    Er schnaubte wieder, dabei sah er auf seine Hände. Bei allem Dreck in seinem Gesicht sah ich doch, dass er darunter rot wurde.
    »Mögt ihr vielleicht jetzt eine Geschichte hören?«, fragte ich.
    Der Junge sah erst das Reh an, dann mich. Er lächelte. »Zufällig

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