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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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ja.«
    Ich erzählte von dem japanischen Jungen, der Katzen zeichnete, jedenfalls soweit ich die Geschichte noch im Kopf hatte. Währenddessen aß der wilde Junge beide Brote, und als er fertig war, schnitzte er wieder. Doch die ganze Zeit hörte er zu. Am besten schien ihm die Stelle zu gefallen, als der Tempelpriester dem Jungen voraussagt, er werde eines Tages ein großer Künstler werden.
    Ich zeigte auf das Stück Holz in den Händen des Jungen und sagte: »Du bist auch ein Künstler, so wie der Junge in der Geschichte.«
    Wieder schnaubte er bloß und schüttelte den Kopf, als hätte ich dummes Zeug geredet, als taugten seine Schnitzereien nichts, trotzdem kam es mir so vor, als freute er sich.
    Die Geschichte näherte sich schon ihrem Ende, dem Teil, in dem der japanische Junge sich vor dem bösartigen Rattendämon in einem Schrank verbirgt, als der wilde Junge plötzlich aufhörte zu schnitzen, den Kopf in die Richtung drehte, in der Henrys Haus lag, und starr lauschte. Sekunden später hörte ich Harlan missmutig vor sich hin brummend mit schweren Schritten den Weg daherkommen.
    Nie zuvor hatte ich jemanden sich so schnell und so leise bewegen sehen wie den Jungen und sein Reh. Eben noch völlig entspannt und aufmerksam, erhoben sie sich plötzlich, wandten sich um und waren keine drei Sekunden später zwischen den Bäumen verschwunden, anmutig und schnell wie Geister oder Rauch oder Vögel im Flug. Kurz raschelten ein paar Blätter, danach war nur noch Harlan zu hören.
    Dabei hatte ich den Jungen noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt – und auch nicht daran gedacht, ihn zu warnen wegen der Summe, die auf seinen Kopf ausgesetzt war.

 
    Der Fremde stieg aus seinem Auto und spuckte auf den Boden.
    Der Kater beobachtete ihn von der Veranda aus, er erkannte ihn, es war derselbe, der im vergangenen Sommer gekommen war, kurz vor dem Mädchen. Wie schon damals drehte er sich langsam im Kreis, ließ seine Blicke schweifen, nahm alles in Augenschein, als wäre es sein rechtmäßiger Besitz. Er betrachtete den Schornstein, das Dach, die Veranda, selbst die Reifen am Wagen des Mannes, maß, schätzte, verglich. Dann drehte er sich zur Wiese um und betrachtete mit einem höhnischen Grinsen die Sachen, die der Mann gemacht hatte.
    Nervös beobachtete der Kater, wie der Mann sich der Veranda näherte. Als er ihn entdeckte, machte er einen plötzlichen Schritt nach vorn und stampfte heftig auf. Wie der Blitz verschwand der Kater von der Veranda und raste zur Wiese und zu den Bäumen hinüber, verfolgt von dem hässlichen, lauten Gelächter des Fremden.

16
    Auf dem Heimweg beschloss ich, bei Henry im Atelier vorbeizuschauen. Ich musste die ganze Zeit an den Jungen denken und war hin- und hergerissen, ob ich Henry von der Begegnung erzählen sollte oder nicht. Es kam mir so vor, als wären der Junge und Schwesterchen durch mein Tagebuch und mich in Schwierigkeiten geraten, und irgendetwas sagte mir, dass sie auch ohne mich schon genug Probleme hatten. Je länger ich darüber nachdachte, ob ich mit Henry sprechen sollte, desto mehr machte ich mir Sorgen, er könne Sheriff Bean rufen, und der würde nicht umhinkönnen, seine Arbeit zu tun. Hargrove und sein Cousin würden genauso frech lügen wie zuvor, um ihre eigene Haut zu retten, und dann stünde ihr Wort gegen das des Jungen. Wer diesen Kampf gewinnen würde, war klar.
    Ein anderes Bild stand mir noch eindringlicher vor Augen, nämlich wie Henry an Erntedank den Abhang hinunter auf mich zugerannt war und sich mitten in die Schusslinie gestellt hatte. Ich wusste, er würde nicht immer auf meiner Seite stehen – manchmal hatte ich schon verrückte Einfälle. Aber bei dem Gedanken daran, wie Curtis uns beide ins Visier genommen hatte, dachte ich, vielleicht würde Henry sich doch meine Sicht der Dinge anhören und mir dabei helfen, eine Lösung zu finden.
    Trotzdem fühlte es sich seltsam an, Henry zu vertrauen, wie eine Schwäche, etwas Riskantes, so als würde ich eine Tür offen stehen lassen, die ich sonst immer verschlossen hielt. Als ich Henrys Werkstatt betrat, arbeitete er an einer Skulptur fürLillians Silvester-Ausstellung, und er war so darin vertieft, dass er gar nicht mitbekam, dass ich hereinkam. In voller Montur – Schweißerschürze, Schutzjacke und Schutzhelm – beugte er sich konzentriert über seine Arbeit, und von seinem Schweißbrenner flogen Funken wie von einem Zauberstab.
    Während ich darauf wartete, dass Henry mich bemerkte, angelte

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