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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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Brust, als wollte er den Fahneneid leisten.
    »Wie viel dieses Mal?«, fragte Henry.
    Ray machte eine erfreute Miene. »Na also.«
    »Was ist jetzt?«, fragte Henry. »Wie viel?«
    »Auf eine Summe hatte ich mich gar nicht festgelegt. Das wollte ich Ihnen und Ihrer Großzügigkeit überlassen.«
    »Und wenn ich zahle«, fragte Henry, »haben wir Sie dann heute zum letzten Mal gesehen? Mit dem Sheriff, Fred und Zoë als Zeugen? Es wird keinerlei Kontakt mehr geben? Nicht einmal den Versuch? Keine Überraschungsbesuche, keine weiteren Kartons mit Fotos und sonstigen Erinnerungsstücken? Keine weiteren emotionalen Erpressungsversuche?«
    »Harte Worte sind das«, sagte Ray.
    Henry schwieg eisern.
    »Mir schienen sie ganz zutreffend zu sein«, warf der Sheriff ein.
    »So wie ich das sehe, erweise ich der Familie doch nur einen Dienst«, sagte Ray. »Schwer zu sagen, ob das in Zukunft wieder mal nötig wird. Irgendwas passiert, irgendwas taucht auf. Erst gestern war da doch was in den Nachrichten über ein kleines Mädchen, da hatte die verstorbene Mutter gewollt, dass das Kind bei jemand anderem leben soll, nicht bei den eigenen Blutsverwandten, und da hat’s eine Entschädigung gegeben für die enttäuschte Partei. Ein ordentliches Sümmchen sogar.«
    Ray fixierte mich mit seinem eiskalten Blick, und mir drehte sich der Magen um. Ich spürte, wie jeder Muskel in Henrys Körper sich anspannte, und sein Griff wurde wieder fester.
    »Was wollen Sie damit eigentlich sagen?«, fragte Henry.
    »Drücken Sie sich mal verständlich aus«, mahnte der Sheriff.
    »Gar nichts will ich sagen«, entgegnete Ray. »Außer dass die Zukunft halt immer ungewiss ist.«
    »Zahl ihm keinen einzigen Cent, Onkel Henry«, sagte ich. »Egal, was er hat, ich will’s gar nicht. Ich bin fertig damit, mit ihm, mit ihr, mit diesem ganzen selbstsüchtigen Haufen.«
    Henry sah mich an. »Ist das dein Ernst?«, fragte er. »Bist du ganz sicher?«
    Ray begriff, dass ihm gerade ein Handel zu entgehen drohte. »Da ist nichts Schlimmes in der Schachtel. Bilder, irgendwelcher Kram. Billiger Schmuck. Was Frauen eben so aufheben. Sachen, die dir gefallen könnten.«
    »Sachen, die ich nicht brauchen kann«, sagte ich und warf das Foto auf den Boden.
    Dann machte ich mich von Henry los, ging ins Haus und knallte die Tür hinter mir zu. Ich lehnte mich von innen dagegen und atmete tief aus.
    »Das war’s dann wohl«, sagte der Sheriff zu Ray. »Ich schlage vor, Sie verlassen jetzt sofort das Grundstück, und ich habe Sie das letzte Mal in unserer Gegend gesehen. Im Übrigen ist Ihr Nummernschild ungültig und der TÜV abgelaufen. In der nächsten Viertelstunde sehe ich darüber hinweg, etwa so lange dürften Sie bis zur Distriktgrenze brauchen.«
    Danach schwiegen Henry, Fred und der Sheriff. Ich spähte durchs Fenster. Ray schaute von einem der steinernen Gesichter zum anderen. Schließlich ging er zu seinem Auto, machte den Kofferraum auf und nahm einen Pappkarton heraus. Er ging fünf, sechs Schritte aufs Haus zu und stellte ihn ab.
    »Sagen Sie ihr frohe Weihnachten«, zischte er, bevor er sich ins Auto setzte und in Schlangenlinien davonfuhr.
     
    Den ganzen Nachmittag lang ließ ich Rays Karton in der Einfahrt stehen. Herr Kommkomm ging hin, schnüffelte daran, musste aber gleich niesen. Ein schlechtes Zeichen, vermutete ich.
    Ich saß im Vorderzimmer und versuchte, mich wieder auf den Jungen und das Reh zu konzentrieren, aber immer wieder kam mir dieser Karton dazwischen, so als hätte er ein Eigenleben. Mal dachte ich, selbst wenn ich ihn in den Weltraum schießen könnte, wäre er immer noch zu nah, mal war ich so neugierig, dass ich es kaum schaffte, sitzen zu bleiben. Im Atelier heulte wieder Henrys Schleifmaschine auf, Fred war zu Bessie hinübergegangen, um ihr ihre Medizin zu geben, Harlan half dem Padre bei irgendwelchen Arbeiten, und so war ich allein.
    Ich fing an, mir die gruseligsten Dinge vorzustellen. Womöglich hatte der Sheriff Ray nicht bis ganz zur Distriktgrenze begleitet. Womöglich hatte Ray einfach kehrtgemacht, um mich zu kidnappen und Lösegeld zu verlangen oder mit Hilfe irgendwelcher gefälschter Papiere das Sorgerecht für mich zu fordern. Rayschaffte es immer noch, jede Freude in mir auszulöschen, er und dieser Karton mit Mamas Sachen – falls es überhaupt Mamas waren. Alles, was mit Mama zu tun hatte, schaffte das noch immer, noch vom Grab aus konnte sie mich provozieren.
    Das Allerschlimmste war, dass ich wieder an

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