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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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erlosch. Wir drehten beide den Kopf zum Fenster, als sich die Metallschiebetür schloss und Henrys Schritte auf dem Kies in der Einfahrt zu hören waren. Einige Sekunden lang blieb Henry stehen, und ich dachte schon, er hätte uns vielleicht doch von unten gesehen, doch dann kam er weiter aufs Haus zu und blieb nur noch kurz stehen, um leise auf der Veranda mit Herrn Kommkomm zu sprechen.
    »Das ist bloß Henry«, flüsterte ich beruhigend. Ich hoffte, Wil hätte kein Problem damit, sich ihm zu zeigen. Zum ersten Mal war mir nicht wohl bei dem Gedanken daran, Henry etwas zu verheimlichen, es schien mir alles andere als richtig.
     
    Wil war der Schrecken anzumerken, auch wenn er sich große Mühe gab, ihn zu verbergen. Wie ein Tier in der Falle, das nach einer Fluchtmöglichkeit sucht, blickte er sich im Zimmer um, als wir Henry auf der Treppe hörten. Ich zeigte auf den Schrank gegenüber vom Bett, und ohne das leiseste Geräusch schlüpfte Wil hinein, die Tasche über der Schulter. Keine zwei Sekunden später stand Henry in der Tür.
    »Ich habe deine Stimme gehört«, sagte er.
    »Hab noch gelesen – laut«, antwortete ich und hielt das Buch hoch.
    »Im Dunkeln?«, fragte er.
    »Der Mond scheint doch so hell.«
    Er warf einen Blick durchs Fenster und nickte. Ich sah, dass er die Späne am Boden bemerkte, doch sollten sie ihm seltsam vorkommen, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Es hatte durchaus seine Vorteile, bei einem Mann zu leben, der Schmutz nicht so schlimm fand. Als er das Buch sah, lächelte er, und bevor ich noch etwas sagen konnte, nahm er es mir aus der Hand. Er steckte noch immer in seiner Arbeitskleidung und war ölbeschmiert, in dieser Hinsicht waren Wil und er sich ziemlich ähnlich. Er knipste die Lampe an und setzte sich auf den Boden, genau dorthin, wo Wil zuvor gesessen hatte. Ich fragte mich, ob der Platz wohl noch warm war. Ein Teil von mir hoffte, Wil würde sich still verhalten, solange Henry las, doch ein anderer Teil hoffte, er würde sich verraten.
    »Vor langer, langer Zeit« , begann Henry mit seiner tiefen Stimme, die sich so gut fürs Geschichtenerzählen eignete, »lebten in einem kleinen Dorf in Japan ein armer Bauer und seine Frau, brave Leute mit vielen Kindern. Das jüngste der Kinder, ein Junge, schien für schwere Arbeit nicht geschaffen. Er war sehr gescheit, gescheiter als all seine Brüder und Schwestern, doch so schwach und klein, dass die Leute meinten, er werde wohl nie sehr groß werden. Daher fanden seine Eltern, es wäre wohl besser für ihn, wenn er nicht Bauer würde, sondern Priester. So brachten sie ihn eines Tages zum Dorftempel und fragten den guten alten Priester, der dort lebte, ob er ihren kleinen Jungen nicht als Gehilfen haben und ihm alles beibringen wolle, was ein Priester wissen müsse.
    Der Junge lernte schnell, was der Priester ihm beibrachte, und war in den meisten Dingen sehr gehorsam. Aber er hatte einen Fehler: Er zeichnete gern Katzen während des Unterrichts und zeichnete Katzen sogar dorthin, wohin man Katzen überhaupt nicht zeichnen darf.
    Immer, wenn er allein war, zeichnete er Katzen. Er zeichnete sie auf die Ränder der Bücher des Priesters und auf alle Wandschirme im Tempel. Der Priester sagte ihm mehrere Male, das sei nicht recht, aber der Junge hörte nicht auf, Katzen zu zeichnen. Er zeichnete sie, weil er nicht anders konnte. Er hatte, was man eine Künstlerseele nennt, und aus ebendiesem Grunde war er zum Priesterschüler nicht ganz geeignet – ein guter Priesterschüler sollte aus Büchern lernen.
    Eines Tages, als er gerade einige sehr gute Katzenbilder auf einen Wandschirm gezeichnet hatte, sagte der Priester streng zu ihm: ›Mein Junge, du musst diesen Tempel sofort verlassen. Aus dir wird nie ein guter Priester werden, aber vielleicht ein großer Künstler. Lass mich dir noch einen letzten Ratschlag geben, und sieh zu, dass du ihn nie vergisst: Meide des Nachts große Plätze, halte dich an kleine!‹
    Hinter dem Schlüsselloch des Schranks sah ich eine winzige Bewegung, und als ich dann noch ein leises Knarren hörte, zog sich mir der Magen zusammen. Ein Schatten fiel auf den Boden vor der Schranktür – offenbar drückte Wil sich fest an die Tür. Seltsam, dass ein Junge, der sich im Wald so geräuschlos bewegen konnte, innerhalb des Hauses kaum dazu in der Lage war.
    Ich hielt den Atem an und wartete, ob Henry ebenfalls etwas gehört hatte, doch der war ganz auf die Geschichte konzentriertund las weiter vor, wie

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