Zoë
der japanische Junge zu einem zweiten Tempel gelangte. Dieser wurde von einem bösen Geist in Gestalt einer Ratte heimgesucht. Auf der Suche nach dem Priester ging der Junge hinein, doch dort war niemand. Er fand jedoch Tusche und leere weiße Wandschirme, und so machte er sich daran, Katzen zu zeichnen, viele, viele Katzen, stundenlang zeichnete er, eine nach der anderen, bis er schließlich müde wurde. Der Junge erinnerte sich an die Worte des alten Priesters und kroch zum Schlafen in einen engen Wandschrank.
Ich hörte ein feines Geräusch und sah, wie der Drehknopf des Schranks sich ein wenig bewegte, während Henry weiter von dem Jungen erzählte, der mitten in der Nacht von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt wurde. So wie es sich anhörte, spielte sich direkt vor der Tür seines engen Verstecks ein verzweifelter Kampf ab, ein Kampf auf Leben und Tod. Erst am Morgen wagte sich der Junge aus dem Schrank und sah eine riesige Ratte, einen Dämon in Gestalt einer Ratte, größer als eine Kuh . Blutüberströmt lag sie tot auf dem Boden des Tempels.
»Aber wer oder was hatte sie wohl getötet?« , las Henry mit tiefem Gefühl weiter, und seine Baritonstimme wurde lauter. »Kein Mensch oder auch kein anderes Lebewesen war zu sehen. Doch plötzlich fiel dem Jungen auf, dass die Schnauzen all der Katzen, die er am Abend zuvor gezeichnet hatte, rot und nass von Blut waren. Da wusste er, dass der Dämon von den Katzen getötet worden war, die er gezeichnet hatte. Und dann erst verstand er auch, weshalb der weise alte Priester zu ihm gesagt hatte: Meide des Nachts große Plätze, halte dich an kleine!
Später wurde aus dem Jungen ein berühmter Künstler, und noch heute zeigt man in Japan den Reisenden einige der Katzen, die er gezeichnet hat.«
Henry schloss das Buch und betrachtete liebevoll dieIllustration auf dem Umschlag, bevor er es mir zurückgab. Dann stand er auf und küsste mich auf die Stirn, und ich hoffte und fürchtete zugleich, Wil könnte aus dem Schrank springen und um noch eine Geschichte bitten. Doch Wil blieb still und die Tür geschlossen. Henry wünschte mir eine gute Nacht und ging zur Treppe.
»Ah, fast hätte ich’s vergessen.« Er wandte sich noch einmal um. »Als ich eben vom Atelier kam, habe ich das weiße Reh gesehen. Es stand am Waldrand, so als wartete es auf jemanden. Als es mich sah, sprang es davon.«
»Was glaubst du, wie es ihm ging?«, fragte ich. Vielleicht hatte Henry ja die ganze Zeit über gewusst, dass Wil hier war, vielleicht war das Ganze eine Art Probe gewesen, bei der ich jämmerlich versagt hatte.
»Gut«, sagte er, und es hörte sich nicht so an, als hätte er irgendeine Absicht verfolgt. »Mysteriös.«
»Danke für die Geschichte, Onkel Henry.«
»Gute Nacht, Zo’«, sagte er und ging nach unten.
Ich hörte, wie er sein Essen aus dem Ofen nahm, das Licht in der Küche ausschaltete und wieder heraufkam. Wil blieb, wo er war. Ich drehte mich auf die Seite, so als schliefe ich schon, während Henry leise an meinem Zimmer vorbeiging und dann die Treppe hinaufstieg. Ich wartete, bis ich hörte, wie er in seinem Zimmer seine Arbeitskleidung auf den Boden fallen und gleich darauf im Bad Wasser einlaufen ließ. Als ich ganz sicher war, dass er nichts hören würde, schlich ich mich aus dem Bett, legte ein Ohr an die Tür und flüsterte Wils Namen, doch es kam keine Antwort. »Wil«, flüsterte ich noch einmal, aber auch dieses Mal kam keine Antwort.
Langsam zog ich die Tür auf. Wil lag zwischen meinen roten Stiefeln und meinen Turnschuhen zusammengekauert auf der Seite und schlief tief und fest. Den Kopf hatte er auf seine Taschegelegt. Wie ein Kind von fünf oder sechs Jahren sah er aus. Ich legte das kleine Buch neben ihn auf den Boden des Schranks und holte die zusätzliche Decke von meinem Bett, um ihn zuzudecken. Er rührte sich nicht. Ich ließ die Tür offen, aber nur einen Spalt. Ich hoffte, er würde die Nacht über hierbleiben, wo er in Sicherheit war, und mich – und auch Henry – aufwecken, bevor er wieder ging.
Ich wünschte, er hätte es getan.
Der Kater konnte nicht schlafen. Nachdem der Junge sich ins Haus gestohlen und die Treppe hinaufgeschlichen war, machte der Kater sich Sorgen. Und als der Junge auf Zehenspitzen wieder herauskam und zusammen mit dem Reh eilig zurück in den Wald ging, kam es dem Kater die ganze Zeit so vor, als hörte er merkwürdige Geräusche aus dem Wald. Es war bitterkalt, selbst auf der Veranda. Das Wasser in
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