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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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eine ganze Weile nach. »Dies ist eine einzigartige Kombination – einerseits ein Glücksbringer zur hundertprozentigen Abwehr von jeder Form von Wahnsinn, andererseits einfach ein echt wildes Ding.«
    Henry schmunzelte. »Sonst auch unter der Bezeichnung Kunstwerk bekannt.«

17
    Bald nachdem Ray abgefahren war und Henry und ich unser »wildes Ding« gemacht hatten, kam der Junge zurück.
    Am selben Nachmittag hatte Fred einen Weihnachtsbaum im Vorderzimmer aufgestellt, von Bessie gequiltete Strümpfe an den Kaminsims gehängt – einen für Henry, einen für mich und einen für Herrn Kommkomm – und einen duftenden Kranz aus Zedernzweigen an der Haustür befestigt. Es war wirklich alles sehr hübsch. Ich mochte den Nadelgeruch des Baums und die kleinen weißen Lichter, die am Ende des Tages darin funkelten.
    Henry arbeitete noch spät an den letzten Arbeiten für Lillians Ausstellung. Ich solle schon mal ohne ihn essen, hatte er gesagt, wenn er fertig sei, würde er noch bei mir reinschauen. Ich sorgte dafür, dass Herr Kommkomm auf der Veranda sein Fressen bekam, machte mir ein Sandwich mit einer Scheibe Hackbraten und las noch ein Weilchen am Kaminfeuer, bevor ich schlafen ging.
    Als ich die Augen aufschlug, saß der Junge im Schneidersitz auf dem Teppich neben meinem Bett. Er schnitzte an einem Stückchen Holz und schien sich ganz wohl zu fühlen. Rechts und links fielen Späne auf den Boden. Aus der Werkstatt drang noch immer das Kreischen von Henrys Schleifmaschine herüber. Angst hatte ich überhaupt keine, eigentlich war ich nicht einmal erschrocken. Ich freute mich, ihn zu sehen, im Grunde hatte ich wohl sogar damit gerechnet, dass er kommen würde.
    Seine Stofftasche lag neben ihm am Boden. Auf der Unterseite stand in großen, unsicheren Buchstaben WIL.
    »Bist du das?«, fragte ich und zeigte auf die Schrift. Er nickte kurz. Dann griff er in die Tasche und zog etwas hervor, was er mir lächelnd in der geschlossenen Faust hinhielt. Ich streckte einen Arm aus, und er ließ mir den Gegenstand auf die flache Hand fallen. Es war eine neue Schnitzerei, wieder vom weißen Reh, doch dieses Mal im vollen Lauf, Vorder- und Hinterläufe gestreckt, anmutig bis ins letzte Detail und absolut lebensecht.
    »Schwesterchen möchte, dass du es bekommst«, sagte Wil, und dabei lächelte er wieder. Ich sah ihm an, dass er sich freute, mich zu sehen, so entspannt war sein Gesicht, und unter der Schmutzschicht sah er direkt gut aus.
    »Ich danke ihr. Es ist wunderschön«, sagte ich. »Wo ist sie?«
    Er wies mit dem Kopf zum Fenster.
    »Habt ihr noch mehr Probleme gehabt?«, fragte ich.
    Wil kicherte. »Schwesterchen macht immer Probleme.«
    »Ich meine richtige Probleme – Ärger.«
    Er antwortete nicht. »Erzähl die Geschichte zu Ende«, war alles, was er sagte.
    Ich hatte ganz vergessen, dass ich ihm kürzlich an der Hütte das Ende der Geschichte von dem japanischen Jungen nicht erzählen konnte, weil Harlan auf einmal kam. War Wil meinetwegen gekommen? Oder wollte er nur hören, wie die Geschichte ausging?
    »Erst muss ich dir noch was anderes erzählen«, sagte ich und berichtete, was ich beim letzten Mal vergessen hatte – die Sache mit dem Bürgermeister und dem Kopfgeld.
    Er zuckte mit den Achseln. »Selbst kann ich es mir wohl nicht abholen, oder?«, fragte er im Scherz. Aber so ganz geheuer schien ihm der Gedanke nicht zu sein.
    Ich wollte noch etwas sagen, aber mir fiel nichts ein, was sich nicht wie Altweibergeschwätz anhören würde, wie Bessie gern sagte, also nahm ich das kleine Buch aus meiner Nachttischschublade, in der ich es aufbewahrte. »Hier sind auch Bilder drin«, sagte ich, und der Junge machte große Augen.
    Er rutschte eifrig ein Stück nach vorn, blieb aber am Boden sitzen. Am Morgen hatte es geregnet, und seine Kleider waren feucht und voll mit Laub und Lehm und rötlicher Erde. Ein starker, aber guter Geruch ging von ihm aus, ein Geruch nach frisch gepflügter Erde und nassen Blättern und Kiefernharz.
    Ich las die Geschichte von Anfang an, im Licht des Vollmonds, der hereinschien. Ich wollte meine Lampe nicht anschalten, aus Angst, Henry könnte Wil durchs Fenster entdecken, wenn er mit der Arbeit fertig war und hinter dem Haus über den Hof kam. Wil beugte sich weit vor und sog jedes Wort auf. Lange betrachtete er jede der farbigen Illustrationen und strich mit den Fingern über besonders schöne Stellen.
    Ich war zu zwei Dritteln durch, als auf einmal das Flutlicht in Henrys Atelier

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