Zoë
hielt Hargrove die Waffe hin. » Du holst sie dir. Es wird sowieso Zeit für dein erstes Mal.«
Hargrove nahm das Gewehr entgegen, und sein Vater trat einen Schritt zurück.
»Nun?«, sagte der Vater. »Mach schon.«
»Aber – sie ist so schön«, antwortete Hargrove.
»Natürlich ist sie schön«, sagte sein Vater in einem Ton, als wäre das selbstverständlich und Hargrove ein bisschen beschränkt. »Genau darum geht es ja. Und wenn du sie schießt, bleibt sie so schön, so hängt sie dann für immer bei uns an der Wand. Und du kannst sagen: ›Das war ich!‹«
»Seht mal, was ich hier habe«, rief in dem Moment eine Stimme von der anderen Seite der Lichtung her, und gleich darauf tauchte Curtis, der Jäger von Erntedank, auf. In der einen Hand hielt er Pfeile und Bogen, mit der anderen stieß er jemanden vor sich her. Wil stolperte vor dem Mann in das matte Licht. Ich fragte mich, wieso er so schwankte, doch dann sah ich, dass er mit beiden Armen etwas trug. Das Gewicht seiner Last drückte ihn fast zu Boden, trotzdem entgingen ihm Schwesterchen und das Gewehr in Hargroves Händen nicht, und er zuckte entsetzt zusammen. Ich wollte ihm schon etwas zurufen, als ich auf einmal erkannte, was er da trug. Es war Bessie! Schlaff und völlig reglos hing sie in seinen Armen.
»Ich will die Belohnung!«, brüllte Curtis.
»Mach schnell, schieß«, forderte der Bürgermeister Hargrove auf. »Dann ruf ich mit dem Handy den Sheriff an und sag ihm, du hast Mrs Montgomery und den Jungen gefunden, der auf dich geschossen hat. Damit bist du der Held des Tages!«
Hargrove wand sich und trat von einem Fuß auf den anderen. Anders als sein Vater hatte er es überhaupt nicht eilig. Ich musste an den Nachmittag denken, als ich gesehen hatte, wie er hinter der Schule dem kleinen Hund des Wachmanns, Sparky, den Bauch streichelte und ihn hinter den Ohren kraulte. Jetzt blickteHargrove von Schwesterchen zu seinem Vater und zu Wil und von Wil zu seinem Vater und zurück zu Schwesterchen. Seit Wil die Lichtung betreten hatte, zerrte Schwesterchen nicht mehr am Seil, doch die Augen hatte es noch immer weit aufgerissen vor Angst. Bei dem Gedanken an das, was gleich passieren würde, schien mein Herz fast zu zerspringen vor Wut.
Dann tat Hargrove etwas, was mich überraschte. Er lehnte das Gewehr an einen der Felsen hinter ihm und ging langsam auf Schwesterchen zu, dabei redete er leise und freundlich auf das Reh ein, um es zu beruhigen. Zitternd und schnell atmend stand es da, ohne Hargrove aus den Augen zu lassen, und wartete, was er tun würde. Er ging in großem Bogen um das Tier herum und zog ein Klappmesser aus der vorderen Hosentasche. Mit einem zornigen Blick auf seinen Vater schnitt er das Seil vom Baum und vom Hals des Rehs.
Einen Moment lang blieb Schwesterchen reglos stehen, nicht sicher, ob es tatsächlich frei war, doch als der Bürgermeister einen großen Schritt machte und nach dem Gewehr griff, hastete es mit weiten Sprüngen auf den Wald zu.
Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte erst nachgedacht über das, was ich dann tat, doch so war es nicht. Als ich mich aufrichtete, oben auf dem Felsen, entdeckten mich Wil und Hargrove, und beide machten sie überraschte, entsetzte Gesichter. Curtis folgte Wils Blick, und als auch er mich sah, stürzte ich mich mit einem gellenden Schrei vom Felsen, direkt auf den Bürgermeister, der in diesem Moment seine Waffe auf Schwesterchen richtete. Ich kam hart auf, verspürte einen heftigen Schmerz und hörte noch, wie sich mit ohrenbetäubendem Lärm ein Schuss löste und Henry brüllte: »Zoë! Nicht!« Danach hörte ich ziemlich lange gar nichts mehr.
19
Ganz fremd war mir Bessie, als ich sie in ihrem Krankenhausbett sah. Ohne ihr Kopftuch und ihre Quilts wirkte sie wie ein runzliges Kind. Noch nie hatte ich sie ohne Kopftuch gesehen. Das wenige Haar, das sie hatte, war silbrig und kurzgeschoren wie bei einem Mann. Schläuche führten von Bessies Ellbogenbeuge und ihrer rechten Seite zu Plastikbeuteln an Metallständern. Ihre Haut war regengrau, Mund und Nase wurden von einer Maske verdeckt, die mit einem Sauerstoffgerät neben dem Bett verbunden war. Immer wieder musste ich mich selbst daran erinnern, dass die Frau in dem Bett Bessie war.
Eine Maschine neben dem Bett machte die ganze Zeit piep-piep-piep . Ich fand es beruhigend, den unregelmäßigen Rhythmus von Bessies Herzschlag auf dem kleinen Monitor zu beobachten, so musste ich nicht auf das flache Heben und
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