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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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tief und fest schlafend.
    Als ich hereinkam, wachte er auf und lächelte ein bisschen, doch ich sah, wie erschöpft er war. Ich schloss die Tür, damit Henry uns nicht hörte, knipste das Licht aus und legte mich mit dem Gesicht zu Wil aufs Bett.
    Er strich mit den Fingern über den Gips an meinem Arm. »Das war dumm von dir«, sagte er, aber gleichzeitig sah er so aus, als wäre er ganz zufrieden mit mir.
    »Du musst reden«, sagte ich. »Sie suchen nach dir. Zwei Drittel wollen uns Orden verleihen, das restliche Drittel will uns einsperren. Wie geht’s Schwesterchen?«
    »Fürs Erste ist sie in Sicherheit. Die Lady hatte recht.«
    »Welche Lady?«
    »Die, die ich gefunden habe. Ich soll Schwesterchen an einen sicheren Ort bringen, hat sie gesagt, und selbst so weit wie möglich von hier weggehen. Und zweihundert Dollar hat sie mir gegeben. Der Bürgermeister ist wie ein Hund mit einem Knochen, den er nicht hergeben will, sagt sie. Schwesterchen soll sterben und ich hinter Gittern landen, früher oder später, das will er.«
    »Wo gehst du hin? Hast du Familie?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich ziehe mit den Erntehelfern weiter. Wie immer. Kein Problem.«
    Ich spürte, dass das Letzte eine dicke Lüge war, dass ihm allein schon bei dem Gedanken das Herz wehtat. »Also, für mich ist es ein Problem.«
    Wil lächelte.
    »Könntest du nicht dem Sheriff, Fred und Onkel Henry erlauben, dir zu helfen? Vielleicht fällt ihnen ja was ein«, fragte ich. »Für die meisten hier bist du ein Held, weil du Bessie gefunden hast. Warum lässt du sie es nicht wenigstens versuchen?«
    »Wie ein Hund mit einem Knochen«, sagte er noch einmal vor sich hin. »Die Lady ist schlau, wirklich.«
    Ich sah ihm in die müden Augen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Bessie und er recht hatten. »Wirst du mir schreiben, damit ich weiß, wo du bist?«
    »Kann nicht schreiben. Lesen auch nicht.«
    »Dann wird’s aber Zeit, dass du’s lernst«, sagte ich, und er grinste.
    Ich griff nach seiner Hand, und er zog sie nicht weg. Danach lagen wir stumm nebeneinander, und eine halbe Minute später schliefen wir beide.
    Als Henry mich am nächsten Morgen weckte, war Wil fort. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
    Aber er hatte mir all seine Schätze dagelassen, sie lagen noch genau so da wie in der Nacht. Und jetzt, da die Sonne in mein Zimmer schien und sich wie goldener Honig auf alles legte, sahen sie noch schöner aus. Henry betrachtete sie aufmerksam. Die Nachricht von Wils Besuch überraschte ihn kein bisschen. Dass er die ganze Nacht geblieben war, davon sagte ich allerdings nichts.
    Ich nahm das Zigarrenkistchen vom Nachttisch und hob den Deckel. Auf einem Bett aus trockenem Laub lagen die sechs geschnitzten Tiere: der Otter und das Eichhörnchen, das Opossum und die Maus, der Waschbär und das Reh. Ich zeigte sie Henry, eins nach dem anderen, und dann zeigte ich ihm die Schnitzerei, die Herrn Kommkomm zeigte, und auch die andere, die von Schwesterchen. Henry drehte sie staunend im Licht hin und her. Wie lebensecht sie seien, sagte er, Wil sei wirklich sehr begabt. Unter den Figuren schaute mich die Mama des Jungen an, von dem Foto, das ich am ersten Tag in der Hütte gesehen hatte. Ich hielt es Henry hin und las ihm das einzige Wort vor, das jemand auf die Rückseite gekritzelt hatte. »Das ist Wils Mama«, sagte ich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie tot ist.«
    Henry nickte traurig und gab mir das Bild zurück.
    Ich wollte es gerade zurücklegen, zusammen mit den kleinen Tieren, als mir am Boden des Kistchens etwas anderes ins Auge fiel, ein zweites Foto, das zuvor nicht dagewesen war. Ich wischte darüber und hielt es dann ans Licht, damit Henry und ich es gemeinsam ansehen konnten. Es war ein Hochzeitsfoto, aber ein trauriges, und es wurde noch trauriger durch seine vielen Knicke und Eselsohren. Als hätte Wil es in der Tasche mit sich herumgetragen. Die Braut war dieselbe Frau wie die auf dem ersten Foto,Wils Mama. Ihr Kleid und ihre Schleier waren nicht weiß, und neu sahen sie auch nicht aus, aber immerhin sauber und gebügelt. Dieses Mal aber wirkte sie glücklich, an der Seite des Mannes, den sie liebte, und sie lächelte in ein dürftiges Sträußchen aus ziemlich welken Blumen, die wohl am Straßenrand gewachsen waren.
    Der Mann wirkte anders. Sein Gesicht war abgewandt, so als schaute er über die Schulter, um zu sehen, was da Schreckliches hinter ihm her war. Von seinem Gesicht war nur der äußerste rechte

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