Zoë
durchschnitten die Dunkelheit. Henry und ich gingen weiter nach Norden. Ich versuchte, mich selbstständig zu machen, weil ich hoffte, dass Wil dann zu mir kommen würde, doch Henry ließ mich nicht von seiner Seite. Zuerst ärgerte mich das – niemals würde Wil auftauchen, solange Henry in der Nähe war, und ohne seine Hilfe würden wir Bessie niemals finden. Doch mit der Zeit, während Henry und ich so zusammen durch den Wald stapften, in den nur mattes Licht fiel, während wir über dieselben Wurzeln stolperten und an denselben Zweigen hängen blieben und uns gegenseitig vor niedrigen Ästen oder morschen Baumstämmen warnten, war ich doch froh, ihn neben mir zu haben. Was sollte ich denn auch tun, allein, wenn ich Bessie tatsächlich finden sollte und es ihr vielleicht so schlecht ging, dass sie nicht laufen konnte? Was konnte ein mickriges Kind wie ich schon allein ausrichten?
Über den Baumwipfeln war die erste Morgenröte zu sehen, als Henry und ich für einen Moment in das graue Licht traten, um zu lauschen und uns zu orientieren. Henry suchte den Wald in alle Richtungen ab, fixierte mit zusammengekniffenen Augen alles,was möglicherweise Bessies zusammengesunkene Gestalt sein konnte. Die Gegend war voller Felsblöcke, und aus der Entfernung sahen die großen, flechtenbewachsenen Steine beinahe menschlich aus.
»Was hat Bessie wohl damit gemeint, dass sie die Hütte sehen will, bevor sie stirbt?«, fragte ich. Das letzte Wort brachte ich fast nicht über die Lippen.
Henry zögerte.
»Sag die Wahrheit«, bat ich.
»Die Wahrheit«, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, »ist, dass Bessie schon viel länger lebt, als jeder für möglich gehalten hat.«
»Wegen dir.«
Henry schüttelte den Kopf und sah mich aus seinen grauen Augen an. »Nein. Und das ist keine falsche Bescheidenheit. Bessie hält schon so lange durch, keiner weiß, wie das eigentlich möglich ist. Ihr Herz schlägt einfach immer weiter, medizinisch lässt sich das nicht erklären.«
Danach stapften wir in düsterem Schweigen weiter durch den Wald. Ich dachte an Mamas Tod und daran, wie schwer es gewesen war, jemanden zu verlieren, den ich nicht liebte. Den ersten Menschen zu verlieren, den ich liebte, dazu war ich nicht bereit.
Plötzlich rief hinter uns der Sheriff laut nach Henry – der Hilfssheriff habe eine tiefe Wunde am Kopf. Henry schärfte mir ein zu warten und rannte los in die Richtung, aus der wir die Stimme des Sheriffs hörten. Der Abstand zwischen uns wurde immer größer, bis Henry ganz zwischen den Bäumen verschwand und ich endlich allein war.
Nur Sekunden später hörte ich aufgeregte Stimmen aus der entgegengesetzten Richtung. Ich nahm an, es seien Fred und Harlan oder andere Suchgruppen, die irgendwo hinter den großenFelsblöcken waren, und ging den Stimmen nach. Doch als ich näherkam, blieb ich erschrocken stehen, denn ich erkannte eine der Stimmen, ihren hässlichen Klang. So leise ich konnte, schlich ich mich an die Felsen heran, tastete nach Halt und schob mich auf dem Bauch vorwärts, um oben drüber zu schauen.
Bei dem Bild, das sich mir bot, hätte ich fast laut aufgeschrien. Hargrove und sein Vater, der Bürgermeister, standen auf einer weiten Lichtung, vielleicht fünfzehn Meter entfernt von Schwesterchen, das mit einer Schlinge an einem Baum am Rande der Lichtung festgebunden war.
Ohne Wil, der es immer schaffte, sie zu beruhigen, war sie außer sich vor Angst, doch je mehr sie versuchte, sich loszureißen, desto heftiger scheuerte das Seil an ihrem Hals, der schon jetzt ganz wund und blutig war. Ich suchte mit den Blicken zwischen den Bäumen nach Wil, denn wer sonst konnte sie dort angebunden haben? Aber was für ein idiotischer Einfall mochte ihn dazu gebracht haben, sie so dort stehen zu lassen?
Hargrove stand direkt unterhalb von mir, das Gesicht dem bleichen, angebundenen Geschöpf zugewandt, das sich vor seinen Augen so quälte. Seine Miene konnte ich nicht sehen, doch sein Vater, der neben ihm stand, strahlte vor Stolz, und ich musste an Ray denken, dem es solches Vergnügen bereitet hatte, Tiere zu töten.
»Ein weißes Reh, so eine Trophäe fehlt mir noch an der Wand«, erklärte der Bürgermeister gerade seinem Sohn. »Das wäre doch perfekt, oder?«
»Aber Daddy, sie ist –«, begann Hargrove.
Sein Vater unterbrach ihn. » Was ist sie? Du bist einfach zu zart besaitet, Hargrove. In der Hinsicht kommst du viel zu sehr nach deiner Mutter. Pass auf – ich hab’s«, sagte er und
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