Zoë
Senken der Brust achten, um sicher zu sein, dass Bessie noch atmete. In meiner Angst konzentrierte ich mich ganz darauf, dem Allmächtigen, von dem der Padre immer sprach und der angeblich im Himmel war, gehörig die Meinung zu sagen. Sicher würden wir alle irgendwann sterben müssen, sagte ich ihm, aber bitte nicht Bessie und schon gar nicht jetzt, so kurz vor Weihnachten, nicht nach allem, was sonst geschehen war. Wenn er sie jetzt von uns nähme, dann könne er mir ein für alle Mal gestohlen bleiben mit seiner knauserigen, hartherzigen Liebe. Ein Kind kann nicht ohne Ende einstecken.
Fred war draußen und besprach sich mit Henry und den anderen Ärzten. Fürs Erste sei Bessie über den Berg, hatte Dr. Miller gemeint, als sie meinen gebrochenen Arm richtete, aber wirmüssten abwarten, bevor wir sicher sein könnten, dass es auch dabei blieb. Ich mochte Dr. Miller, sie hörte mir zu wie einer Erwachsenen.
»Bist du die Tochter von Dr. Royster?«, hatte sie mich gefragt, während sie meinen Arm gipste.
»Seine Nichte«, sagte ich.
»Ihr seht euch nämlich irgendwie ähnlich. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn anfangen sollten, jede Woche kommt er uns helfen.«
Außerdem hatte sie gesagt, Bessie wäre mit Sicherheit gestorben, wenn Wil sie nicht früh genug gefunden hätte. »Ihr habt sie gerade noch rechtzeitig hergebracht. Dein Freund Wil ist ein Held.«
Bessie bewegte sich unter ihrer Decke, und als sie die Augen aufschlug, strahlten sie wie immer. »Kleines, was machst du denn hier?«, fragte sie ganz leise. Wegen der Maske konnte ich sie kaum hören. Ich beugte mich vor.
»Henry hat gesagt, ich soll ihn holen, falls du aufwachst. Willst du das?«
Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht gleich. Sag mir erst, wie ich hergekommen bin, damit ich mich nicht wie eine alte Närrin anhöre.«
Ich erzählte ihr, was ich wusste. Wie Wil sie im Wald gefunden hatte, nachdem sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Mitternachtsspaziergang zu machen, und wie er versucht hatte, sie zurückzutragen und Hilfe zu suchen. Wie Hargrove sich seinem Vater widersetzt hatte und ich dem Bürgermeister von einem Felsen auf den Kopf gesprungen sei. Dem Bürgermeister ginge es im Großen und Ganzen gut, sagte ich, aber an Hargroves Stelle wäre ich jetzt, nach der Sache zwischen ihm und seinem Vater, nicht gern.
»Ich wünschte, ich wäre wach gewesen, als das alles passierte«, flüsterte Bessie.
»Keine Sorge«, sagte ich, »kommt alles in meine Memoiren.«
»Wenn sie verfilmt werden, sorg dafür, dass jemand Hübsches meine Rolle spielt. Wo ist der Junge?«
»Weg. Keiner weiß, wohin. In dem ganzen Durcheinander ist er seinem Reh hinterhergelaufen.«
»Gut für die beiden.« Bessie entdeckte den Gips an meinem linken Arm.
»Den Arm hab ich mir gebrochen, als ich gesprungen bin. Tut aber nicht sehr weh.« Ich schwieg. Da war noch etwas anderes, was ich sagen wollte.
»Spuck’s aus«, sagte Bessie.
»Henry hat gesagt, du wärst um ein Haar gestorben.«
Bessie klopfte leicht mit der Hand auf ihre Matratze. »Komm hoch zu mir.«
Ich kletterte vorsichtig über das Gitter und legte mich auf die Seite, sodass ich Bessie ansehen konnte.
»Weißt du, woran ich mich vor allem erinnern werde, wenn ich an heute denke?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Daran, dass dies der beste Tag seit Langem war.«
Mir schien das ein merkwürdiger Satz.
»Der allerbeste Tag«, fuhr sie fort. »Ich bin aus meiner Gefängniszelle ausgebrochen und endlich mal über meinen Garten hinausgekommen, weit hinaus! Für dich klingt das vielleicht nicht nach viel, aber sieh mal, Schätzchen – ich habe gelebt! Als ich in den Wald ging, da war mein erster Gedanke, dass ich Fred und allen anderen erlaubt hatte, sich solche Sorgen um mein armes Herz zu machen, dass es fast aufgehört hatte zu schlagen. Doch nicht heute!«
»Bis zur Hütte hast du es aber nicht geschafft.«
»Versucht habe ich’s, stimmt’s? Ich habe meine Ketten abgeworfen und es versucht. Und gelernt habe ich das von dir. Du hastmir gezeigt, dass man sich von nichts und niemandem daran hindern lassen darf, das zu tun, wozu man im Innersten geschaffen ist.«
Sie lächelte matt. Als sie den Kopf ganz in meine Richtung drehte, sah ich, dass die linke Gesichtshälfte starrer war als die rechte. Ihre Augen schlossen sich ein bisschen. »Von jetzt an wird mich niemand mehr davon abhalten, das zu tun, wozu mein Innerstes mich treibt. Gerade jetzt zum Beispiel möchte es, dass ich hier
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