Zoë
neben dir liege und ein Ründchen schlafe.«
Im nächsten Moment schlief sie auch schon ein. Ich blieb bei ihr liegen und dachte nach über das, was sie gesagt hatte. Ich dachte an Henry und die heftigen Vorwürfe, die Fred und der Sheriff ihm gemacht hatten, weil er mich tun ließ, was ich tun musste. Ich hatte ihn ignoriert, ihm einfach nicht gehorcht, hatte ihn zu Tode erschreckt, ihm die Wahrheit vorenthalten und ihm eine herrenlose Katze, einen wilden Jungen, mit Gewehren bewaffnete Leute und zwei von Mamas Versagertypen in sein Leben geschleppt. Nicht, dass ich inzwischen glaubte, ich hätte irgendetwas anders machen können. Trotz allem hatte Henry die Zügel weiter schleifen und die Stalltür offen stehen lassen.
Ich nickte ein, und als ich nach einem Weilchen wieder aufwachte, stand Henry am Bett und betrachtete mit ernster Miene Bessies Krankenblatt. Er trug seine Chirurgenkleidung und war so sauber, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
So streng und ernst sah er aus, dass ich einen Moment lang sicher glaubte, er sei noch immer wütend auf mich. Doch als er sah, dass ich wach war, legte er das Krankenblatt auf den Nachttisch, beugte sich über das seitliche Gitter und hob mich mit seinen starken Armen hoch. So fest drückte er mich an sich, wie man es vielleicht mit einem Menschen tun würde, von dem man schon befürchtet hatte, man könnte ihn verlieren.
Ich legte meinen Kopf an seine Brust und atmete den schwachen Geruch nach Schmieröl, Terpentin und Metallstaub ein, diesen typischen Henry-Geruch, der auch mit noch so viel Schrubben und Scheuern nicht wegging, den Geruch, den ich zu lieben begann.
Einen ganzen Tag und den größten Teil der kommenden Nacht verbrachten wir im Krankenhaus, bis Henry mit Bessies Zustand zufrieden war. Fred blieb auch weiter bei ihr, aber Henry und ich fuhren nach Hause, um ein bisschen Schlaf zu bekommen. Es ging schon auf fünf Uhr früh zu, als wir dort ankamen, und Henry legte sich sofort schlafen. Ich ging erst noch einmal hinaus auf die Veranda, um Herrn Kommkomm zu füttern und zu streicheln, der dort auf mich gewartet hatte. Mit den Augen suchte ich den Waldrand nach Wil ab – einerseits hoffte ich, dass er kommen würde, andererseits auch nicht.
Der Bürgermeister hatte die auf Wils Kopf ausgesetzte Belohnung mittlerweile auf zehntausend Dollar aufgestockt. Sheriff Bean hatte ihm gesagt, er solle sich gut überlegen, wie er erklären wolle, dass er mit einem Gewehr losgezogen sei, um Bessie zu suchen, und dass sich zu allem Überfluss aus diesem Gewehr ein Schuss gelöst hatte, durch den leicht irgendjemand aus den Suchtrupps hätte ums Leben kommen können. Der Bürgermeister hatte gekontert, mit dem Gewehr hätte er sich gegen Verbrecher mit Pfeil und Bogen zur Wehr setzen wollen, und dass sich der Schuss gelöst habe, sei allein meine Schuld gewesen. Das solle er mal dem Staatsanwalt erzählen, hatte der Sheriff nur gemeint, der bezweifelte, dass die Anschuldigungen des Bürgermeisters sich aufrecht erhalten ließen, wenn Wil erst einmal gefunden wäre. Zum einen sei es nicht zu bestreiten, dass er Bessie tatsächlich das Leben gerettet hatte, zum anderen liege nichts gegen ihn vor, außer dass er Hargrove, der sich in betrunkenem Zustandunbefugt auf privatem Gelände aufgehalten hatte, mit einem Bogenschuss gestreift hatte. Aber ein junger Wanderarbeiter wie Wil, ein Niemand, hätte vermutlich keine Chance und keinen Moment Frieden, solange alle hinter ihm her wären, um ihn einzufangen und die Belohnung zu kassieren. Falls er geschnappt würde, vermutete der Sheriff, würde man ihn vermutlich in ein staatliches Erziehungsheim stecken. Das Beste für ihn wäre wohl, von hier zu verschwinden, einfach weiterzuziehen.
Weil ich an Wil und Bessie dachte, stieg ich mit schwerem Herzen die Treppe hinauf, doch was ich dann sah, als ich in meinem Zimmer Licht machte, machte mich so froh, dass ich fast laut gejubelt hätte. Ich blieb in der Tür stehen und betrachtete mit großen Augen den Anblick, der sich mir bot: Das ganze Zimmer – der Boden, die Fensterbank, die Kommode, das Nachttischchen, das Bücherregal – war voll mit Wils Schätzen: Vogelnestern und Eiern, wunderschönen Steinen, einem Schildkrötenpanzer, Kiefernzapfen, Tierknochen, flechtenbewachsenen Zweigen und Dutzenden von Federn in jeder Vogelfarbe.
Auf meinem Nachttisch stand Wils Zigarrenkistchen, das ich gefunden hatte, als ich das erste Mal in der Hütte war, und in meinem Bett lag Wil,
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