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Zopfi, Emil

Zopfi, Emil

Titel: Zopfi, Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Spitzeltango
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des Grossmünsters hatten sich nicht verändert. Nur das Tram, das ihm vom Central her entgegenkam, war nicht mehr blau wie einst, sondern mit greller Werbung für eine Bank bemalt.
    Neben einer Steinsäule am Limmatquai kauerte eine Frau vor einer Art Altar mit brennenden Kerzen in roten Gläsern, Blumensträussen und handgeschriebenen Zetteln. «Martin, wir lieben dich.» – «In Erinnerung an unsern Freund Martin Kunz.» An die Säule war ein Bild geklebt, aus einer Zeitung geschnitten. Ein älterer Mann mit sichelförmigem Schnurrbart, geröteten Wangensäcken, melancholischem Blick. Das Gesicht eines Alkoholikers.
    Robert blieb stehen. Martin, dachte er, unverkennbar, auch nach so vielen Jahren. Die junge Frau sah zu ihm hoch, sie trug einen Filzhut, flach wie ein Suppenteller, einen violetten Schal um den Hals geschlungen. An einem Lederband baumelte ein Friedenszeichen aus Messing, Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht.
    «Haben Sie Martin gekannt?» Ihr Gesicht war nass, von der kühlen Luft gerötet. Sie senkte ihren Blick, beschäftigte sich wieder mit den Kerzen und den Blumen.
    «Er war mal mein Anwalt.» Robert griff sich an den Hals, als ob er den Klumpen lösen könnte, der ihm das Atmen schwer machte. «Er ist also tot.»
    Sie nickte, zog ihre Unterlippe ein, ihre Mundwinkel zuckten. «Ein so engagierter, feiner Mensch.»
    Sie stand auf, lehnte sich ans Gitter, deutete auf einen Brückenpfeiler. «Da hat man ihn aus dem Wasser gezogen. Es war kein Unfall, wie die Polizei behauptet, bestimmt nicht.»
    Martin Kunz. Die Erinnerung war da und zugleich der Schmerz. Der Stich hinter dem Auge. Robert hielt sich am Geländer fest.
    «Ist Ihnen nicht gut?»
    «Geht gleich vorüber. Was ist mit Martin?»
    «Sie haben ihn umgebracht.»
    «Sie?»
    «Die Baumafia. Spekulanten.» Ihre Hände umklammerten das Geländer so fest, dass ihre Knöchel weiss wurden. «Er hat ihre korrupten Geschäfte vermasselt.» Gemeinderat der Grünen sei er gewesen, Präsident der Baukommission.
    «War er nicht früher bei den Sozis?»
    «Schon möglich.»
    «Er war ein guter Anwalt.»
    Sie lehnten nebeneinander am Geländer, schauten in den Fluss. Spiegelnde Lichter tanzten auf den Wellen. Robert hielt den Schirm so, dass er die junge Frau halb bedeckte. Ariane hiess sie. Sie war klein, er musste etwas in die Knie gehen. Ihre Finger spielten mit dem Friedenszeichen. Die Sätze des Songs gingen ihm wieder durch den Kopf. Einmal waren sie wichtig gewesen, in Zürich, in dem Leben hier. Er sagte sie halblaut vor sich hin. Eine zweite Strophe fiel ihm ein.
    Wie lange brauche ich schon, um
    anzukommen ,
    wann bin ich losgegangen ,
    wie lange schon gehe ich ,
    seit wann gehe ich .
    Er war losgegangen, vor langer Zeit. Irgendwohin, nirgendwohin. Er war amerikanischer Staatsbürger geworden, Professor für Deutsche Sprache und Literatur, eingeheiratet in eine wohlhabende Familie von Republikanern, Baptisten mit Verbindungen. Er war Vater und seit kurzem Grossvater.
    «Schön, das Gedicht. Von wem ist es?»
    «Ich erinnere mich nicht mehr. Wird mir aber schon wieder einfallen.»
    Ariane kettete ihr Fahrrad vom Geländer los, schob es neben sich her, während sie das Limmatquai entlang gegen den See spazierten.

    Pippo war im Lehnstuhl eingeschlafen. Es musste schon Tag sein, aus dem Fernseher quakte die Stimme der Wetterfröschin. Er tappte auf die Fernbedienung, bis sie verstummte und ihr verquetschtes Lächeln und das Tiefdruckgebiet aus seinem Gesichtsfeld verschwanden. Dass es regnete, sah er auch am Fenster, über das dicke Tropfen ihre Bahn zogen. Verschwommen nahm er die Autos auf der Schweighofstrasse wahr. Der Name der Strasse durchs Wohnquartier war ein Hohn. Früher hätte man Barrikaden errichtet, den Verkehr zum Schweigen gebracht. Aber nun? Die Jugend prügelte sich mit der Polizei nach Fussballspielen oder wenn es um eine illegale Bar ging, aber ohne politische Vision. Politik machten nur noch die Banker und Bonzen und ihre Handlanger von der Volkspartei, wie sie sich neuerdings nannte. Und unter diesem Namen das Volk verhöhnte und verarschte. Kapitalfaschisten regierten das Land.
    Pippo tastete sich durch den Korridor, stolperte über Flaschen. Die Küchentür stand offen, ein Geruch schlug ihm entgegen, als verwese eine Maus unter dem Tisch. Wenn Alice diese Ordnung sehen würde, diesen «Zustand», wie sie sagte. Sie hatte immer peinlich geputzt, gefegt, gesaugt, geflickt, gebügelt. Ein anständiges Leben, er Tramführer

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