Zores
aufzunehmen.
Doch es half nichts. Seine Nervosität wich nicht von ihm, so viel er auch trank. Das Einzige, konstatierte er, das noch sicher war, war, dass nichts sicher war. Mochten der junge Duft und die Seinen fröhlich feiern, doch das war nur ein Tanz auf einem Vulkan, der schon hörbar grummelte. Merkwürdig, wie schnell Stimmungen wechseln konnten! Eben war er noch reichlich euphorisch gewesen, und jetzt packte ihn völlig unvermutet wieder das kalte Entsetzen. Er beobachtete, dass seine rechte Hand immer noch zitterte. Bronstein erhob sich und goss Milch in ein Reindl. Dieses stellte er dann auf den Herd, den er anschließend anwarf. Ein Glas warme Milch, vielleicht mit einem Esslöffel Honig darin, würde zur Beruhigung beitragen, dachte er sich. Doch vor allem musste er auf andere Gedanken kommen. Die Trübsinnigkeit war seiner Gesundheit fraglos abträglich.
Während er darauf wartete, dass die Milch warm wurde, starrte er auf seinen blanken Esstisch. Einer spontanen Eingebung folgend, griff er zu seinem Portemonnaie und leerte dessen metallenen Inhalt auf den Tisch. „So“, sagte er zu sich,während er den Haufen Münzen vor sich betrachtete. Er griff nach zwei Halbschillingen, die er in der Mitte des Tisches platzierte. Diese sollten Suchy und Frank symbolisieren. „Zwei halbe Portionen“, grinste Bronstein. Danach nahm er einige Eingroschenstücke, auf deren Rückseite sich jeweils ein Adlerkopf befand. Diese standen für die Kinder, die bei Suchy gewesen waren. Bronstein zählte sie ab. Zwei für die Witzmanns, zwei für die Oberhollenzer und drei für die anderen Pimpfe, nämlich zwei für Richard und Georg Kranewetter und einen für Siegfried Wagner.
Nachdem er die Milch vom Herd genommen, in ein Glas geschüttet und mit Honig versetzt hatte, kramte er weiter in seinem Münzhaufen. Er zog drei Einschillingstücke heraus. „Das sind jetzt der Glaise-Horstenau, der Seyß-Inquart und der Frauenfeld“, lachte er glucksend und drehte die Münzen um, sodass sie mit dem Bildnis des Parlaments die beiden Opfer umrahmten. Dann hielt Bronstein eine kleine Weile inne. Irgendwer hatte ihm noch etwas von zwei HJ-lern erzählt, die am Abend vor Suchys Tod bei diesem gewesen waren. Bronstein nahm zwei Zehngroschenstücke, auf denen ein Bauersmann abgebildet war, und legte sie unter die beiden halben Portionen. Ein Fünfgroschenstück mit dem Kruckenkreuz darauf vertrat Vater Staat, denn es war ja immerhin möglich, dass tatsächlich irgendein Heimwehrler gegen die beiden Nazis vorgegangen war.
Sein pekuniärer Besitz war beinahe gänzlich zur Neige gegangen. Neben ihm gab es jetzt nur noch die Karlskirche, welche die Zweischillingmünze zierte, und eine Mariazeller Gnadenmutter, die auf der Fünfschillingmünze zu sehen war. Die Maria, so beschloss er, sollte für die große Unbekannte stehen, die Zweischillingmünze hingegen für die sonstigen Verbindungen Suchys, für seine Geschäfte, denn wer passte besser fürSchachereien als die Kirche? Mochte Jesus seinerzeit die Schächer aus dem Tempel geworfen haben, aber jetzt regierten sie die Kirche, die der Zimmermannssohn einst begründet hatte, mehr denn je. Also war die Karlskirche Suchys Rinderimperium. Rinderimperium? Was wusste er überhaupt darüber? Nichts, wenn er es genau bedachte. All seine Kenntnis beruhte auf der Aussage der Hausmeisterin. Es würde also nicht schaden, dem nachzugehen.
Bronstein stand auf und ging in sein Vorzimmer, wo sich sein Telefonapparat befand. Wie gut, dass Cerny als Oberstleutnant der Wiener Polizei nun auch über einen Fernsprecher verfügte, denn so konnte ihn Bronstein jederzeit erreichen. Tatsächlich meldete sich sein Mitarbeiter umgehend. „Du“, begann Bronstein, „wir haben uns noch gar nicht mit Suchys Firma beschäftigt. Kannst du dir das morgen gleich in der Früh näher anschauen? Vielleicht gibt’s ja dort einen Anhaltspunkt.“ Cerny erklärte, er werde sich gleich als Erstes darum kümmern, und so legte Bronstein zufrieden auf, um sich sodann wieder dem Münzporträt auf seinem Esstisch zuzuwenden. Lange und nachdenklich betrachtete er es.
„So a Schas!“, fluchte er endlich und ging ins Wohnzimmer.
Er hatte sich tatsächlich viel von dieser Aufstellung erwartet, doch nun musste er sich eingestehen, sie half ihm kein bisschen weiter.
II.
Freitag, 11. März 1938
Es war schon lange nach Mitternacht gewesen, als Bronstein endlich in sein Bett gekommen war. Und wenn er gehofft hatte, dadurch
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