Zores
Stärkung der unmenschlichen Diktatur, die der deutsche Nationalsozialismus gegen die deutschen Arbeiter ausübt.“
Das mochte nicht falsch gedacht sein, sagte sich Bronstein, während er sich dem nächsten Absatz zuwandte.
„Die österreichischen Arbeiter können daher auf Schuschniggs Frage am Sonntag nicht mit Nein antworten, da dies den Hitler-Faschismus stärken würde. Der kommende Sonntag ist nicht der Tag, an dem wir mit dem österreichischen Faschismus abrechnen und dem autoritären Regime alle Verbrechen, die seit dem Februar 1934 an der österreichischen Arbeiterschaft begangen worden sind, heimzahlen, indem wir gegen Schuschnigg stimmen. Am kommenden Sonntag manifestieren wir unseren glühenden Hass gegen den HitlerFaschismus. An diesem Tag muss daher die gesamte Arbeiterklasse mit JA stimmen.“
Unwillkürlich atmete Bronstein auf. Die Sozis hatten sich also darauf festgelegt, Österreich gegen die Nazis zu verteidigen. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Die Nazis selbst verfügten höchstens über ein Drittel der Bevölkerung, der Rest hatte sich nun gegen sie festgelegt. Vielleicht kam das Land – und damit er – doch noch mit einem blauen Auge davon.
Mit einer Messerspitze voll Optimismus im Gemüt betrat er das Kleidergeschäft des alten Herrn Duft. Den Inhaber konnte er nicht ausmachen, dafür aber eine Verkäuferin, die mit dem Rücken zur Tür stand. Es schien, als bebten ihre Schultern, und Bronstein meinte, ein leises Schniefen zu hören. Deutlichkonnte er sehen, wie die Frau eilig nach einem Taschentuch griff und es sich über das Gesicht führte. Dann drehte sie sich um und meinte mit belegter Stimme: „Sie wünschen?“
Man musste nicht der Vogeldoktor vom Alsergrund sein, um erkennen zu können, dass diese Person eben noch geweint hatte. „Aber Gnädigste, was ist Ihnen denn?“, fragte Bronstein teilnahmsvoll.
„Ah nix. Womit kann ich helfen?“ Die Verkäuferin kämpfte mit dem Inhalt ihrer Nase, erwog offenbar kurz, den Rotz einfach hochzuziehen, entschied sich dann aber doch, abermals zum Taschentuch zu greifen und sich zu schnäuzen.
„Vielleicht Probleme mit dem Herrn Gemahl?“, mutmaßte Bronstein.
„Aber geh’n S’, zum Heiraten bin ich doch noch viel zu jung!“ Gegen ihren Willen musste die Dame lachen. „Gemahl! Wie sich das schon anhört!“
„Entschuldigung schon …“, gab Bronstein leicht indigniert zurück.
„Nein, nein, der Herr. Es ist eh nett, dass Sie sich …, ich mein’ …, es war nur das Wort … so lustig. Verstehen S’? … Das war“, und an dieser Stelle trat wieder die Traurigkeit auf das Gesicht der Verkäuferin, „der erste erheiternde Moment in all dieser Trostlosigkeit da.“
„Aber wie können S’ denn so etwas sagen, Gnädigste. Eine so hübsche junge Frau wie Sie. Da liegt ja das ganze Leben noch vor einem …“
„Ja“, replizierte sie bitter, „das Leben von einem jüdischen Mischling ersten Grades.“
Endlich wurde auch Bronstein die Lage der Frau bewusst! Natürlich! Er befand sich ja in einem jüdischen Geschäft. Da war natürlich auch die Belegschaft jüdisch.
Verdammt! Jetzt dachte er auch schon so wie diese Barbaren! Das war doch nicht die Möglichkeit, dass diese Schurken einem sogar das Denken vorgaben! Bronstein räusperte sich. „Ich verstehe Ihre Sorgen, Gnädigste. Ich bin auch so ein … Fall. Aber jetzt gibt es ja wieder Hoffnung. Die Volksabstimmung … nicht?! Die Sozis werden für Schuschnigg stimmen, das hab ich Schwarz auf Weiß, also wird’s nicht so schlimm kommen.“
Die Gesichtszüge der Angestellten spiegelten eine Mischung aus Verärgerung und Mitleid wider: „Sind S’ so naiv oder tun Sie nur so?“
„Wie belieben?“
„Das ist doch vollkommen powidl, wie diese Volksabstimmung ausgeht! Die Nazis kommen. So oder so. Entweder demokratisch legitimiert oder halt mit nackter Gewalt. Wahrscheinlich mit Letzterer. Darin sind s’ ja Experten, die braunen Horden.“
„Na ja …“
„Aber ich bitte Sie, der Herr, das hat doch schon längst begonnen. Seit Monaten werden wir boykottiert. Wenn ich das Geschäft aufsperre, kommt einer von den Nazis und beschimpft mich. Vor ein paar Tagen hat mir einer sogar eine mit der flachen Hand auf den Hinterkopf gegeben.“
„Da müssen S’ zur Polizei gehen, Fräulein …“
„Geh bitte! Die ist doch zur Hälfte eh schon braun. Was glauben S’, was die mit mir machen. Die lachen mich bestenfalls aus. Und wahrscheinlich nennen S’
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