Zores
alles in ihm wehrte sich dagegen, nun den Heimweg anzutreten. Es musste doch noch eine Möglichkeit bestehen, sich in Gesellschaft zu begeben. Wozu in die Ferne schweifen, dachte er sich, gab es doch in seiner Gasse gleich zwei Häuser weiter ein Etablissement, in dem ein Ablenkung suchender Herr im gestandenen Mannesalter auf seine Kosten kommen sollte. Der Zubau zum Haus Nummer 11 war schon 1884 errichtet worden und hieß eine gute Weile „Moulin Rouge“, ehe man sich in der Republik von der kosmopolitischen Weitläufigkeit verabschiedet und den eher provinziellen Namen „Zur schiefen Laterne“ erwählt hatte. Lange Zeit konnte man die„Laterne“ getrost vergessen, denn viel mehr als eine fade Nummernrevue wurde dem Publikum dort nicht geboten. Zuletzt allerdings, so hatte Bronstein gehört, war es mit dem Haus wieder deutlich bergauf gegangen, wofür nicht nur witziges Kabarett verantwortlich war, sondern auch die engagierten Damen, die der Bezeichnung „Lustspieltheater“ eine eigene Note gaben. Für einen Polizeioffizier mochte es mithin ein wenig anrüchig sein, einen solchen Ort aufzusuchen, aber in Zeiten wie diesen brauchte sich jemand mit dem Nachnamen „Bronstein“ darum wohl am wenigsten zu sorgen.
Kurz entschlossen überquerte er bei der Oper den Ring, umkurvte den merkwürdigen Bau der Herren Siccardsburg und Van der Nüll, und stand auch schon in der Walfischgasse. Er ging an seinem Wohnhaus vorbei und hielt auf die roten Lichter zu, die schon von weitem auf das gastliche Haus aufmerksam machten. Am Eingang verbeugte sich ein livrierter Diener und wies Bronstein darauf hin, dass er seine Garderobe gleich rechts abgeben könne. Der Oberst tat wie ihm geheißen und begab sich dann in das Rondeau, in dem sich die Tische und die Bühne befanden. Ein Kellner mit weißem Jackett trat auf ihn zu und wollte ihn eben an einen freien Tisch geleiten, als ein jüngerer Mann aufgeregt mit dem Arm fuchtelte und auf sich aufmerksam zu machen suchte.
„Ja grüße Sie, Herr Oberst“, rief er über den Gesprächslärm hinweg, „Sie auch hier?“
Bronstein bemühte sich, den Mann genauer in den Blick zu bekommen, und endlich klingelte es bei ihm.
„Der junge Herr Duft! Was für eine Überraschung!“
„Na, Überraschung weniger. Ich bin ja praktisch täglich hier. Aber, sagen S’ mir doch, Herr Oberst, was verschlagt denn Sie hierher? Es wird doch nicht am End gar was Dienstliches sein?“
„Nein, nein, mein Besuch ist rein privater Natur. Ich wohn ja praktisch nebenan, und da hab ich mir gedacht, ich schau mir den Laden einmal aus der Nähe an.“
„Na, da schau her! Wenn das so ist, dann erweisen S’ mir doch bittschön die Ehr’, sich zu mir zu setzen. Oder sind S’ mit wem verabredet?“
Bronstein verneinte.
„Na dann, nix wie her da. Ganz allein ist so ein Kabarettl doch nur der halbe Spaß. Herr Ober, noch ein Glaserl für den Herrn Oberst!“ Und dann, wieder an Bronstein gewandt: „Sie trinken doch ein Flascherl mit, oder?“
Bronstein bejahte.
„So ist’s richtig, Herr Oberst. Immerhin muss man einen Tag wie den heutigen gebührend feiern!“
„Feiern? Hat leicht jemand Geburtstag? Am End’ vielleicht gar Sie, Herr Duft?“
„Aber geh’n S’! Dass die Nazis uns jetzt doch nicht kriegen, das muss man feiern!“ Innerlich freute sich Bronstein, endlich auf jemanden gestoßen zu sein, der die Dinge optimistisch sah, denn seine Zuversicht war zuletzt deutlich erschüttert worden.
„Sie glauben also auch, dass wir die Volksabstimmung g’winnen?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Aber sicher, Herr Oberst! Da fahrt die Eisenbahn drüber.“ Duft beugte sich leicht zu Bronstein hinüber und senkte dabei seine Lautstärke: „Der Schuschnigg ist zwar ein provinzieller Trottel, aber alles, wirklich alles ist besser als diese Wahnsinnigen vom Hitler.“
„Da haben Sie vollkommen recht“, pflichtete ihm Bronstein bei.
„Womit“, fragte Duft schelmisch, „mit Ersterem oder mit Zweiterem?“
„Offiziell mit Letzterem, inoffiziell mit beidem“, gab Bronstein glucksend zurück.
„Ja, Herr Oberst, ich sag’s Ihnen ehrlich, ich bin so erleichtert, das kann ich gar nicht in Worte fassen. Ich hab am Schluss schon richtig Spundus g’habt. Die waren ja schon beinahe nicht mehr zum Aufhalten, diese widerlichen G’stalten. Die sind ja zuletzt aus dem Boden g’schossen wie die Schwammerln nach dem Regen. Menschen, die man für vollkommen anständige Leut’ g’halten hat,
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