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Zores

Zores

Titel: Zores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Pittler
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Vierteljahrhundert nichts geändert hatte. Die Nummern ähnelten auffallend jenen aus der Zeit der Monarchie. Ein Zauberkünstler da, ein Zotenerzähler dort, dazwischen sang eine Dame Couplets. Höchstens die Tanzeinlagen waren neu, obwohl sich Bronstein daran erinnerte, dass auch seinerzeit in diversen Etablissements an denKostümen der Tänzerinnen gespart worden war. Die hiesige Truppe zeigte jedenfalls erstaunlich viel Haut für ein christlichständisches Gemeinwesen. Für einen Augenblick wähnte sich Bronstein in Paris, als die jungen Mädeln ihre nackten Beine in die Luft wirbeln ließen. Und er gestand sich ein, dass ihn ein wohlig-warmes Gefühl beschlich, als er die grazilen Körper der Elevinnen betrachtete. Für eine kurze Weile vergaß er tatsächlich all das Elend, das ihn den ganzen Tag über verfolgt hatte, all die Tatarennachrichten, Niederlagen und Bedrohungen, und er konstatierte mit dem Anflug eines Lächelns, dass er sich gleich um vieles jünger fühlte.
    „Haben S’, Herr Oberst, genug Schilling mit?“
    Duft hatte sich zu ihm gebeugt und ihm diese Frage zugeraunt.
    „Wieso?“
    „Na ja, nach der Vorstellung lassen sich die Damen gerne einmal auf ein Glaserl Sprudel einladen, wenn S’ verstehen, was ich meine.“ Dabei zwinkerte Duft anzüglich. Und die wohlige Wärme in Bronstein nahm augenblicklich zu.
    „Na ja“, schmunzelte Duft dann, „kann man, muss man aber nicht.“
    „Genau“, pflichtete Bronstein bei, „aber ich gebe zu, der Gedanke an sich, der hat was.“
    Er gönnte sich ein Stifterl Wein und spürte, wie seine Backen angenehm glühten. Auch wenn er eifrig weiter den Tänzerinnen zusah, so verschwammen ihm doch allmählich die Bilder. Er träumte sich fort an einen anderen Ort und eine andere Zeit. Wie ein stiller Zecher saß er schweigsam am Tisch, nippte ab und zu von seinem Glas und lächelte auf eine entrückte Art blödsinnig vor sich hin.
    „Herr Oberst! Hallo! Herr Oberst!“
    Bronstein schreckte hoch.
    „Jetzt wäre das Programm dann aus. Jetzt heißt’s entweder ins Separee oder nach Hause gehen.“ Duft lächelte aufmunternd.
    Bronstein blickte um sich, seufzte dann und begann, seine Sachen im Jackett zu verstauen. „Herr Duft, es war ein wunderschöner Abend, für den ich mich herzlich bedanke. Aber wie heißt es so schön, man soll gehen, wenn’s am schönsten ist.“
    Duft erwiderte Bronsteins Gruß und wandte sich dann einer Gruppe junger Menschen zu, mit denen er sich in ein Gespräch vertiefte. Bronstein gab dem Türsteher noch einmal Trinkgeld und legte dann die paar Meter bis zu seinem Wohnhaus in leichtem Schwanken zurück. Unwillkürlich summte er die Melodie aus „Orpheus in der Unterwelt“ und musste sich am Türstock festhalten, um rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Umständlich suchte er seine Schlüssel, steckte sie nach mehreren Versuchen endlich erfolgreich ins Schloss und betrat das Innere seines Hauses. Dabei hatte er die Tür zu heftig geöffnet, sodass sie mit einem lauten Scheppern gegen die Wand donnerte. Bronstein zuckte erst zusammen, dann kicherte er kindisch. Er legte übertrieben outriert seinen Zeigefinger auf die Lippen und ließ ein lautes „Scht“ vernehmen. Als sich niemand über sein Tun echauffierte, wankte er schwerfällig in den 1. Stock, um sich dort Zutritt zu seiner Wohnung zu verschaffen. Er betrat seine Küche, holte eine Flasche Erlauer aus der Speisekammer und entkorkte sie umständlich. Dann schenkte er sich ein Glas ein, von dem er in vorsichtigen Schlucken nippte.
    Na bitte, dachte er sich. Das Leben hatte auch seine guten Seiten. Die Nacht hatte zwölf Stunden, dann kam schon der Tag. Was hatte er sich vor wenigen Stunden noch gefürchtet, und was war ihm seitdem alles widerfahren! Er hatte nach einem Vierteljahrhundert das Fräulein Raczek wiedergetroffen, und nach all dem politischen Ungemach konnte er zufrieden feststellen, dass sich der Abend als überaus versöhnlich erwiesen hatte. Mochten die Dinge oft auch trüb aussehen, letztlich wandte sich doch alles zum Guten. Auf diesen Gedanken gönnte sich Bronstein einen weiteren Schluck.
    Eigentlich, so dachte er dann, konnte er nun zufrieden zu Bett gehen. Doch was, wenn ihn nächtens wieder solche Beklemmungen befielen? Was, wenn es über Nacht einen nationalsozialistischen Putsch gab? Augenblicklich implodierte sein eben noch vorhandener Optimismus, und mit zittriger Hand führte er das Weinglas an die Lippen, um dessen Inhalt gierig in sich

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