Zores
Und angesichts dieser niederschmetternden Perspektiven sollte er sich um einen gewöhnlichen Mörder sorgen?
Müde schleppte er sich zurück ins Bett. Er vergrub sich unter seiner Bettdecke und wünschte sich, dass es niemals morgen würde.
Erbarmungslos läutete um sieben Uhr der Wecker. Bronstein kämpfte lange gegen das penetrante Klingeln an, doch schließlich gab er seinen Widerstand auf. Er mochte kaum mehr als drei Stunden geschlafen haben, und so fühlte er sich auch. Die Wohnung präsentierte sich in einem abweisenden Halbdunkel,und Bronstein vermochte nicht zu sagen, ob es einer objektiven Kälte oder aber seiner unendlichen Mattigkeit geschuldet war, dass er elendiglich fror. Er flitzte in die Küche, stellte eilig die Espressomaschine auf den Herd und suchte dann hektisch nach Socken. Unter konvulsivischen Zuckungen entledigte er sich seines Nachthemds und schlüpfte geschwind in neue Unterwäsche, wobei er ob eines nicht zu ignorierenden Schüttelfrosts darauf verzichtete, sich grundlegend zu waschen. Als er endlich Hemd, Hose und Weste am Leibe trug und die ersten paar Schlucke des Kaffees intus hatte, begann langsam die Kälte in ihm zu weichen. In diesem Lichte riskierte er es, seine Bewegungen sparsamer werden zu lassen. Er setzte sich an den Küchentisch und rauchte sich eine „Donau“ an. Während er den Rauch ausblies, bemühte er sich um eine Tagesordnung für die geplanten Verrichtungen. Als Erstes, so beschloss er, würde er den alten Herrn Duft aufsuchen. Das Präsidium konnte warten. Er warf einen mitleidigen Blick auf sein Münzorganigramm und sammelte die einzelnen Geldstücke ein. Da saß er nun, er armer Tor – und war so beschränkt und vernagelt wie eh und je. Er seufzte und dämpfte die Zigarette aus. Dann stand er auf, griff nach dem Jackett, hernach nach dem Mantel, zog beide Kleidungsstücke über und verließ dann, erneut seufzend, die Wohnung.
Kaum hatte er das Haustor geöffnet, schlug ihm eisiger Wind entgegen. Er zog den Mantel noch fester zu und befahl sich selbst, den Unbilden des Tages zu trotzen. Er wollte gerade die Straße überqueren, als ein Radfahrer, der gegen die Einbahn fuhr, dahergerast kam. Bronstein schaffte es gerade noch, wieder auf den Bordstein zu springen, ehe ihn der Radler passierte.
„Öha!“, rief Bronstein, dem eindrucksvoll der Grund für die Bezeichnung „Waffenrad“ vor Augen geführt worden war, undschickte ein „Vursicht, heast!“ hinterher. Der Radfahrer drehte nur leicht den Kopf und forderte ihn in derben Worten zur Darmentleerung auf. Reflexartig war Bronstein versucht, die berühmten Worte Kaiser Ferdinand des Gütigen zu zitieren: „Halts eam, bindts eam, und bringts eam aufs Rathaus“, doch dann griff er blitzschnell nach seinem Bleistift und zog seine Zigarettenschachtel hervor. Er kniff die Augen zusammen und notierte das Kennzeichen des Verkehrssünders. Innerlich dankte er der Finanzverwaltung, im Vorjahr eine Kennzeichenpflicht für Radfahrer eingeführt zu haben, denn bislang waren diese bei allen Verkehrsübertretungen ungeschoren davongekommen, da sie im Gegensatz zu den Lenkern von Automobilen nicht kenntlich waren. Na wart, dachte sich Bronstein, di zag i an. Zufrieden steckte er die Zigarettenpackung wieder ein und überquerte nun endlich die Straße.
Noch ehe er den gegenüberliegenden Bürgersteig erreicht hatte, fiel ihm ein Stück Papier auf, das, scheinbar achtlos weggeworfen, im Rinnsal gelandet war. Bronstein hätte keinen zweiten Blick darauf geworfen, wenn ihm nicht das völlig aus der Mode gekommene Wort „Genossen“ am Beginn des Textes aufgefallen wäre. Er hielt inne und beugte sich zu dem Zettel hinunter, um ihn besser lesen zu können. „Die Form, in der Schuschnigg die Volksabstimmung diktiert, stellt Euch vor die Entscheidung, entweder mit Ja zu stimmen oder dem Hitler-Faschismus zur Macht zu verhelfen.“ Bronstein hatte nur diesen einen Satz lesen müssen, um sich darüber im Klaren zu sein, dass er es mit einem Flugblatt der illegalen Arbeiterbewegung zu tun hatte. Nun, nach einem derartigen Stakkato an patriotischen Worthülsen mochte es eine nette Abwechslung sein, einmal zu lesen, was die Gegenseite dachte. Bronstein hob den Zettel vorsichtig hoch und fuhr dann mit der Lektüre fort.
„Ein Sieg Hitlers bedeutet nicht nur die blutige Unterdrückung und grenzenlose Ausbeutung der österreichischen Arbeiter, er bedeutet auch eine Niederlage der Arbeiterbewegung der ganzen Welt und die
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