Zorn und Zärtlichkeit
Teich, in dem Sheena so gern badete.
»Warum wart Ihr dort?«
Jamie bemerkte den veränderten Tonfall des Jungen nicht. »Das muss ich dir verschweigen, denn es macht mir nur noch mehr Schande.«
»Ihr werdet es mir sagen - wenn ich vergessen soll, dass Ihr der Laird von MacKinnion seid.«
Jamie verschwendete keine Zeit. »Du würdest mich nicht verraten? Gibst du mir dein Wort?«
»Ja.«
»Also gut, ich will es dir anvertrauen - obwohl ich bezweifle, dass du Verständnis für meine Dummheit aufbringen wirst. Ich war in diesem Wäldchen, um nach einer junge Frau Ausschau zu halten, die dort einmal gebadet hat - in einem kleinen Teich. Dabei habe ich sie heimlich beobachtet.«
Das Blut stieg in Nialls Wangen. Dieser Mann hatte seine Schwester angestarrt... Sie würde sich schrecklich schämen, wenn sie das wüßte... »Wann war sie dort?«
»Im Frühling.«
»Und heute morgen? Habt Ihr sie da auch gesehen?«
»Nein.« Jamie beugte sich hoffnungsvoll vor. »Kennst du sie? Ich dachte, sie könnte eine Bettlerin sein, die inzwischen weitergezogen ist.«
»Keine Fergusson wäre dumm genug, in diesem Teich zu baden«, log Niall mit kühler Stimme. »Ja, vermutlich ist sie längst über alle Berge.«
»Ich habe auch gar nicht erwartet, dass ich sie wiedersehen würde«, sagte Jamie wehmütig, »aber ich hab's gehofft.«
»Und was hättet Ihr getan, wenn sie noch einmal aufgetaucht wäre?«
Jamie grinste. »Wenn du ein bißchen älter wärst, würdest du's wissen.«
»Meine Schwester hat völlig recht, James MacKinnion!« fauchte Niall wütend. »Ihr seid ein niederträchtiger Rohling, und ich werde kein Wort mehr mit Euch reden!«
Jamie zuckte mit den Schultern. Niall Fergusson war zu jung, um die Wünsche eines Mannes zu hegen, deshalb konnte er sie auch nicht verstehen. »Wie du meinst... Wirst du dein Versprechen trotzdem erfüllen?«
»Natürlich. Ich habe noch nie mein Wort gebrochen.«
Als die Falltür geschlossen und der Riegel vorgeschoben wurde, bereute Jamie, dass er den Jungen geneckt hatte. Nialls Besuch war eine erfreuliche Abwechslung in seiner Gefangenschaft gewesen. Nun würde er eine ganze Weile auf Gesellschaft verzichten müssen.
Niall kehrte in sein Zimmer zurück und fand noch immer keinen Schlaf. Allmählich ließ sein Zorn nach, und er konnte wieder etwas klarer denken.
Der Laird von MacKinnion saß in Dugald Fergussons Verlies! Niall wusste , wie schwer es ihm fallen würde, diese Neuigkeit für sich zu behalten. Und wie sollte er die Tatsache verkraften, dass dieser Mann - noch dazu der schlimmste Feind des Fergusson-Clans - seine Schwester in ihrer ganzen Schönheit gesehen hatte? Nun, daran ließ sich nichts mehr ändern. Aber in Zukunft würde er Sheena nicht mehr erlauben, nackt in diesem Teich zu schwimmen.
Niall hatte nur zu gut begriffen, dass James MacKinnion seine Schwester begehrte und sie wahrscheinlich vergewaltigt hätte, wenn er ihr ein zweitesmal im Wäldchen begegnet wäre. Vor diesem starken, großen Mann hätte er sie nicht beschützen können. Glücklicherweise war es dazu nicht gekommen. Der Laird von MacKinnion musste nur wenige Minuten, nachdem Sheena ihr Bad beendet hatte und mit ihrem Bruder nach Hause gelaufen war, am Teich eingetroffen sein.
Er durfte niemals erfahren, dass die junge Frau, die seine Sinne reizte, Sheena Fergusson hieß.
6.
Sheena saß im Nähzimmer. Sie trug eines ihrer schönsten Kleider, ein hellgelbes Gewand, das einen lebhaften Gegensatz zu ihrem offenen dunkelroten Haar bildete. Unterstützt von zwei Dienerinnen stichelte sie todunglücklich an ihrem Brautkleid aus Samt und Seide in zwei verschiedenen Blautönen. Die dunklere Farbe passte genau zu ihren Augen. So prachtvoll das Kleid auch war - sie fand keine Freude daran, denn wenn sie es anzog, würde sie sich an einen Fremden binden und ihr Zuhause verlassen müssen.
Im Nähzimmer konnte sie sich genauso gut verkriechen wie anderswo. Die Schwestern grollten ihr trotz der bevorstehenden Hochzeit noch immer - und sie wollte nicht von ihnen belästigt werden. Vor allem Margaret warf ihr vor, dass sie so lange auf ihre Trauung mit Gilbert MacGuire warten musste . Und alle drei hatten sich stets geärgert, weil Sheena ihrem gutaussehenden Vater glich. Obwohl er sich seinem fünfzigsten Lebensjahr näherte, besaß er immer noch g e nauso dichtes dunkelrotes Haar wie sie. Nur an den Schläfen war es von weißen Strähnen durchzogen. Und seine Augen leuchteten so klar und
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