Zorn und Zärtlichkeit
Blick mit ihrem Mann. Seine Tante wusste nichts mehr von ihrem Geständnis. Aber sie war seither merklich verändert. Anscheinend hatte sie - befreit von der quälenden Last jener Tragödie - ihren lange vermißten seelischen Frieden wiedergefunden; auch wenn sie die bösen Erinnerungen erneut verdrängte.
»Nun, ich habe nichts dagegen«, sagte Jamie. »Aber es wird seltsam sein - wenn sie nicht mehr da ist.«
»Sie wird dir nicht allzusehr fehlen«, versicherte Daphne und sah Sheena lächelnd an. »Außerdem hast du eine Menge zu tun - nachdem du endlich aus den Federn gefunden hast. Ich wusste gar nicht, dass mein Bruder so ein Faulpelz ist.«
»Oh, es war sehr schön im Bett«, entgegnete Jamie in beiläufigem Ton, »Vor allem, seit ich diesen merkwürdigen Traum hatte.«
»Tatsächlich?« fragte Daphne neugierig.
»Ich träumte, meine Frau würde mir ihre Liebe gestehen. Vielleicht bin ich deshalb so lange liegengeblieben - weil ich hoffte, der Traum könnte sich wiederholen.«
Das Blut stieg in Sheenas Wangen, als Jamie ihren Blick festhielt. Hatte er wirklich gehört, was sie in jener Nacht gesagt hatte - trotz seines hohen Fiebers?
Daphne verdrehte die Augen. »Du brauchst mich nicht hinauszuwerfen, Jamie, ich weiß es immer, wenn ich unerwünscht bin. Paß gut auf dein kostbares Juwel auf!« ermahnte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger, dann küßte sie ihren Bruder und ihre Schwägerin und eilte hinaus.
Unbehaglich senkte Sheena den Kopf, nachdem sich die Tür geschlossen hatte.
»Es war ein schöner Traum«, bemerkte Jamie.
»So?« Sie wusste nicht, was sie sonst entgegnen sollte.
Er biß sich auf die Lippen. Wollte sie ihm neue Schwierigkeiten machen? Wie konnte er sie fragen, was er wissen musste , wenn sie seinem Blick auswich? Er hätte nicht so lange warten sollen.
Er machte nicht gern große Worte, und es fiel ihm schwer, über seine Gefühle zu reden. Was in seinem Herzen vorging, hatte er schon vor langer Zeit erkannt. Aber es war ihm unmöglich gewesen, das alles auszusprechen, wann immer sich eine Gelegenheit ergeben hatte. Jetzt durfte er nicht mehr warten. Er musste sich Klarheit verschaffen.
»Kannst du mich lieben, Sheena?« So. Jetzt war es gesagt.
Sheena zögerte. Sollte sie ihm die Wahrheit verraten dass sie ihn bereits liebte? Wie verletzlich würde sie sein, wenn er es wüßte... Dieses übermächtige Gefühl war ihr noch fremd, und es jagte ihr Angst ein. Statt einer Antwort stellte sie die gleiche Frage. »Kannst du mich lieben?«
Er ging zu ihr und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Sein Kuss war zart und doch voller Liebe. Atemlos schmiegte sie sich an ihn. » Muss ich es in Worte fassen? Wäre das jemals nötig gewesen?«
»O ja!«
Jamie seufzte tief. »Heilige Maria! Also gut - ich liebe dich! Aber erwarte nicht von mir, dass ich es dir Tag für Tag von neuem schwöre...« Er unterbrach sich nervös. »Und du?«
Sheena lächelte ihn strahlend an. »Ich liebe dich, Jamie - von ganzem Herzen.«
Da lachte er erleichtert auf und drückte sie fest an sich. »Oh, meine Süße, du ahnst nicht, wie glücklich du mich machst!«
»Eigentlich geht's mir auch nicht schlecht«, neckte sie ihn.
42.
Sie saßen am Tisch des Lairds in der großen Halle von Tower Esk. Die Mahlzeit näherte sich dem Ende. Es war ein schöner Abend gewesen, und Sheena hatte mit Genugtuung beobachtet, wie gut sich ihr Vater und Jamie verstanden. Nun konnte sie es kaum erwarten, das Gästezimmer aufzusuchen, das sie mit ihrem Mann teilen sollte.
Am nächsten Morgen wollten sie abreisen. Sheena hatte Jamie während des Besuchs in Tower Esk nur selten zu Gesicht bekommen und war ein bißchen eifersüchtig auf ihre Verwandten. Seltsam - nachdem sie so lange unter schrecklichem Heimweh gelitten hatte, sehnte sie nun die Rückkehr in ihr neues Zuhause herbei.
Sie überlegte, ob dieses Gefühl jemals nachlassen würde - dieser brennende Wunsch, jeden Augenblick ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Sie berührte sein nacktes Knie unter dem Kilt, und er grinste sie an, beugte sich zu ihr und flüsterte: »Ist dir klar, was du da anrichtest?«
»Natürlich.« Langsam wanderten ihre Finger über seinen Schenkel nach oben.
Jamie hielt ihre Hand fest und drückte sie, dann stand er unvermittelt auf, entschuldigte sich bei seinen Tischgefährten und führte Sheena aus der Halle.
Sobald sie aus dem Blickfeld der Leute verschwunden waren, rannten sie, lachend wie übermütige Kinder, in ihr Zimmer hinauf.
Weitere Kostenlose Bücher