Zorn und Zärtlichkeit
tiefblau wie die ihren.
Die Mutter war eher unscheinbar gewesen, und die anderen Fergusson-Töchter sahen ihr alle ähnlich. Elspeth konnte immerhin mit den blauen Augen des Vaters und einem rötlichen Schimmer im braunen Haar aufwarten. Aber Margaret und Fiona hatten die glanzlosen, wasserblauen Augen der Mutter und deren langweiliges braunes Haar geerbt. Sheena hatte sich oft gewünscht, wie ihre Schwestern auszuschauen. Manchmal war es geradezu eine Strafe, schön zu sein.
Die Abneigung zwischen der Ältesten und den jüngeren Mädchen grenzte an Haß, doch das störte Sheena nicht sonderlich. Sie hatte sich nie mit ihnen verstanden. Als Erstgeborene war sie von ihrem Vater in Dingen unterrichtet worden, die er ihr niemals beigebracht hätte, wäre Niall früher auf die Welt gekommen. Dugald war mit ihr fischen und jagen gegangen. Und er hatte ihr nach Fionas Geburt, als der ersehnte Stammhalter erneut ausgeblieben war, ein Pony geschenkt. Ihre zimperlichen Schwestern, die sich eng an die Mutter angeschlossen hatten, waren ihr stets gleichgültig gewesen. Und im Lauf der Jahre hatte sich die Kluft zwischen ihnen vertieft.
Aber Sheena saß nicht nur im Nähzimmer, um ihren Schwestern zu entrinnen, sondern vor allem, weil William MacAfee hier zu allerletzt nach ihr suchen würde. Sie wusste immer noch nicht genau, warum sie ihn nicht mochte - vielleicht lag es an der subtilen Grausamkeit in seinen Augen, die ihr schon als Kind aufgefallen war.
Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte er sich für sie interessiert und sie immer wieder beiseite genommen, um mit ihr zu reden, zu schimpfen oder sie von Niall fernzuhalten. Als sie sechzehn geworden war, hatte er ihr zum erstenmal einen Heiratsantrag gemacht. Damals war sie ebenso angewidert und verängstigt gewesen wie jetzt. Sein Ein Fluss auf ihren Vater war viel zu groß. Aber sobald Dugald eine Entscheidung getroffen hatte, ließ er sich nur selten umstimmen. Das war ein Nachteil für William, weil der Laird beschlossen hatte, seine Älteste mit MacDonough zu verheiraten. Andererseits könnte er seine Pläne ändern, wenn William überzeugend genug auf ihn einredete. So sehr ihr die Verbindung mit Alasdair MacDonough auch widerstrebte - sie sehnte den Hochzeitstag herbei, denn bis dahin musste sie ihren Vetter fürchten.
Ihr Vater und William saßen gerade unten in der Halle und besprachen, wie man an die MacKinnions herantreten sollte, um den Preis für die Freilassung des Gefangenen auszuhandeln. Sheena hoffte, dass Niall diese Unterredung mitanhörte und ihr später Bericht erstatten würde.
Als hätten ihre Gedanken ihn herbeigeholt, stürmte ihr Bruder ins Nähzimmer. »Ah, da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht und hätte nie erwartet, dich ausgerechnet hier zu finden.«
Sheena lächelte. »Wie du siehst, bin ich trotzdem da. Warum regst du dich denn so auf?«
Niall warf einen Blick auf die beiden Dienerinnen, und seine Schwester schickte sie hinaus.
»Ich wollte es niemandem erzählen«, platzte er heraus, »aber ich kann es einfach nicht für mich behalten. Deshalb muss ich es dir sagen - aber nur dir!«
Sheena sah ihn belustigt an. Niall war immer noch in dem Alter, wo einem die belanglosesten Dinge schrecklich wichtig erschienen.
»Ich habe heute nacht die Falltür zum Verlies aufgemacht.«
Ihre Heiterkeit war sofort verflogen. »Das hättest du nicht tun dürfen.«
»Ich weiß, aber ich konnte nicht anders«, gestand er. »Ich musste ihn einfach sehen.«
»Und? Hast du ihn gesehen?«
»Allerdings! Du würdest nicht glauben, wie groß und stark er ist, Sheena. Und stell dir vor, er hat von Mann zu Mann mit mir geredet!«
»Du hast mit ihm gesprochen?« flüsterte sie erschrocken.
Niall nickte. »Wir haben uns sogar ziemlich lange unterhalten. Aber das ist es nicht, was ich dir erzählen wollte. Sheena - der Gefangene in unserem Verlies ist James MacKinnion höchstpersönlich. Und er scheint genauso kühn und dreist zu sein, wie es allgemein behauptet wird.«
Sheena begann zu frösteln - und Niall lief ein noch kälterer Schauer über den Rücken, als er Margarets Stimme hinter sich hörte. »Der Laird von MacKinnion!«
Die Tür war nicht richtig geschlossen, und das Mädchen hatte gelauscht. Nun rannte es davon, wie von Furien gejagt, und Sheena rief: »Lauf ihr nach, Niall! Sie wird es Vater sagen!«
Er stürzte aus dem Zimmer, doch da eilte Margaret bereits die Treppe zur Halle hinab, und er hörte ihre schrille Stimme.
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