Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Gedanke, sie anzurufen, Blasphemie bedeuten. Allein weil es einen Zorn gibt, der von oben verliehen wird, ist es legitim, die Götter in die heftigen Affären der Menschen zu involvieren. Wer unter solchen Prämissen den Zorn besingt, feiert eine Kraft, die die Menschen aus der vegetativen Benommenheit befreit und unter einen hohen schaulustigen Himmel stellt. Die Erdenbewohner schöpfen Luft, seit sie sich vorstellen können, die Götter seien Zuschauer, die sich an der irdischen Komödie delektieren.
Das Verständnis dieser für uns ferngerückten Verhältnisse dürfte durch den Hinweis erleichtert werden, daß nach der Auffassung der Alten der Held und sein Sänger in einem authentisch religiösen Sinn miteinander korrespondieren. Religiosität ist die Zustimmung von Menschen zu ihrer Medialität. Mediale Talente gehen bekanntlich verschiedene Wege, doch können diese sich an wichtigen Knotenpunkten schneiden. Der »Medien«pluralismus ist folglich ein Sachverhalt, der bis in frühe Zustände der Kultur zurückreicht. Jedoch, die Medien sind zu dieser Zeit nicht die technischen Apparate, sondern die Menschen selbst mitsamt ihren organischen und geistigen Potentialen. Wie der Rhapsode das Mundstück einer singenden Kraft sein möchte, so fühlt sich der Held als Arm des Zorns, der die denkwürdigen Taten vollbringt. Der Kehlkopf des einen und der Arm des anderen bilden miteinander einen hybriden Körper. Mehr als dem Kämpfer selber gehört dessen Schwertarm dem Gott, der auf dem Umweg über Sekundärursachen in menschliche Verhältnisse einwirkt; und er gehört natürlich seinem Sänger, dem der Held, samt seinen Waffen, den unsterblichen Ruhm verdanken wird. So bildet die Verknüpfung Gott – Held – Rhapsode den ersten effektiven Medienverbund. Die tausend Jahre, die im mittelmeerischen Raum auf Homer folgen, handeln immerwieder von Achilles und seiner Verwendbarkeit für die kriegerischen Musen.
Man braucht sich nicht lange bei der Feststellung aufzuhalten, wonach in heutiger Zeit kein Mensch mehr authentisch so zu denken in der Lage ist – ausgenommen vielleicht einige Bewohner des esoterischen Hochlands, wo die Wiederverzauberung der Welt größere Fortschritte gemacht hat. Ansonsten haben wir nicht nur aufgehört, wie die Alten zu urteilen und zu empfinden, wir verachten sie insgeheim dafür, daß sie die »Kinder ihrer Zeit« blieben, gefangen in einem Heroismus, den wir bloß als archaisch und ungehörig begreifen können. Was dürfte man Homer aus heutiger Sicht und den Gepflogenheiten der Ebene gemäß entgegenhalten? Soll man ihm vorwerfen, er verletzte die Menschenwürde, indem er Individuen allzu direkt als Medien befehlender höherer Wesen auffaßte? Er mißachtete die Integrität der Opfer, indem er die Mächte feierte, die ihnen Schaden zufügten? Er neutralisierte die willkürliche Gewalt und machte aus Kampfergebnissen unmittelbare Gottesurteile? Oder müßte der Vorwurf abgemildert werden zu der Feststellung, er sei eine Beute der Ungeduld geworden? Er habe nicht bis zur Bergpredigt warten können und Senecas De ira nicht gelesen, das Brevier der stoischen Affektkontrolle, das für die christliche und humanistische Ethik eine Vorlage bildete?
In Homers Horizont gibt es für Einwände dieser Art selbstverständlich keinen Angriffspunkt. Das Lied von der heroischen Energie eines Kriegers, mit dem das Epos der Alten beginnt, erhebt den Zorn in den Rang der Substanz, aus der die Welt gefertigt ist – falls wir zugeben, daß »Welt« hier den Kreis von Gestalten und Szenen des althellenischen krieger-adligen Lebens im ersten Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung bezeichnet. Man möchte glauben, eine solche Sicht sei spätestens seit der Aufklärung hinfällig geworden. Doch dieses vom Vorrang des Kampfes geprägte Bild der Dinge zur Gänze zurückzuweisen dürfte dem gebildetenRealisten der Gegenwart weniger leichtfallen, als das kurante pazifistische Gefühl glauben möchte. Auch die Modernen haben die Aufgabe, den Krieg zu denken, nie völlig vernachlässigt, ja, dieser Auftrag wurde über lange Zeit mit dem männlichen Pol der Bildung assoziiert. 4 An seinem Maß wurden bereits die Schüler der Antike geeicht, als die Oberschichten Roms, zusammen mit den übrigen griechischen Kulturmodellen, auch den epischen Bellizismus ihrer Lehrmeister importierten, ohne darüber im geringsten ihren bodenständigen Militarismus zu vergessen. Und so lernte es die Jugend Europas seit der
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