Zornesblind
Fall ist weniger mehr«, klärte sie ihn auf. »Soll ich loslegen?«
Striker nickte.
Sie zitierte aus dem Bericht.
»Der Vorfall ist zehn Jahre her, kurz nachdem Lexa und Ostermann heirateten.«
»Dann war Gabriel damals erst acht«, überlegte Striker laut.
Felicia nickte. »Deshalb wurde das Jugendamt eingeschaltet und die Datei privatisiert.« Sie blätterte durch die Seiten. »Hier steht, dass ein Notruf bei der Polizei einging, kurz darauf wurden Notarzt und Krankenwagen angefordert. Und dass die Ostermanns am Lost Lake Urlaub machten. Gabriel und sein jüngerer Bruder William spielten im Schnee.«
»William?«, wiederholte Striker.
Felicia nickte bekräftigend. »Offenbar brachte Lexa zwei Kinder mit in die Ehe: Dalia und William. Wie auch immer, Gabriel warf seinem Bruder eine Frisbeescheibe zu, und William schaffte es nicht, sie aufzufangen. Das Wurfspielzeug sauste über seinen Kopf und landete auf dem See.«
»Der im Winter zugefroren war?«
»Ja, korrekt. Folglich landet das Frisbee auf dem Eis. Die Kinder waren von ihren Eltern gewarnt, nicht am See zu spielen, weil der Winter fast vorbei und das Eis zu dünn war. Leider setzten sich die beiden Jungen über das Verbot hinweg. Gabriel, der Ältere und Schwerere, blieb am Ufer stehen. William, jünger und leichter, lief auf das Eis.«
»Und die Eisdecke brach ein«, folgerte Striker.
»Ja. Der Junge ging unter. Das Schlimme ist, er hätte gerettet werden können. Hier steht, dass der Junge sich noch eine ganze Weile am Rand der Eisschicht festhalten konnte. Er rief um Hilfe, rief nach seinem Bruder. Aber Gabriel stand wie erstarrt.«
»Ach du Scheiße.«
»Krampfzustände der Muskulatur«, erklärte sie. »Die Überwachungskamera der Nachbarn hat alles mitgefilmt. Gabriel konnte nicht hinschauen. Demnach wandte er sich von seinem Stiefbruder ab und ließ sich in den Schnee fallen. Presste sich die Fäuste auf die Ohren.«
Striker schüttelte betroffen den Kopf.
»Jede Hilfe kam zu spät. Als Notarzt und Krankenwagen eintrafen, war William bereits tot. Er lag irgendwo ertrunken unter dem Eis. Und Gabriel hatte einen katatonischen Schock. Später schaltete sich das Jugendamt ein.« Felicia überflog den Bericht. »Der zuständige Beamte kritisierte seinerzeit, dass Erich Ostermann sich als Vater zu wenig kümmerte und wie Lexa den Jungen behandelte. Dass sie ihm die Schuld an Williams Tod gab.«
»In Brüssel war Lexa schwanger«, sagte Striker. »Gut möglich, dass William ihr einziger leiblicher Sohn war. Dalia stammt aus ihrer Ehe mit Gerald Jarvis. Dann heiratete sie Erich Ostermann.«
»Eine ganz reizende Familie«, ätzte Felicia. »Patchwork vom Allerfeinsten.«
»Das kannst du laut sagen. Wenn ich mir Lexa als Mutter vorstelle, wird mir ganz anders. Wie kann man so grausam sein und einem Achtjährigen die Schuld am Tod seines jüngeren Bruders geben? Sie muss Gabriel Ostermann das Leben zur Hölle gemacht haben. Da kommt mir ein Gedanke. Wahrscheinlich ist Gabriel gar nicht so paranoid, wie es das psychologische Gutachten ausweist. Er wurde systematisch so programmiert, wie er heute ist.«
»Das war ganz ohne Zweifel Lexa«, konstatierte Felicia. »Die große Preisfrage ist, wusste Gabriels Vater davon?«
»Dr. Ostermann?« Strikers Stirn legte sich nachdenklich in Falten. »Er muss es gewusst haben. Du hast gesehen, wie er den Jungen behandelte – wie irgendein Subjekt, aber nicht wie seinen Sohn. Der Mann hat bewusst die Augen davor verschlossen. Kein Wunder bei seiner Veranlagung. Er war Lexa hörig. Und dann flog die Geschichte auf.«
Er warf einen Blick auf die Akte.
»Wo ist denn das fragliche Video?«, erkundigte er sich.
»Das ist ja das Merkwürdige«, antwortete Felicia. »Der Nachbar schwor Stein und Bein, dass er eins hätte, aber als die Polizei es als Beweisstück anforderte, war es spurlos verschwunden. Als hätte es sich in Luft aufgelöst.«
»Wer’s glaubt, wird selig«, grummelte er. »So was verschwindet nicht ohne Grund. Irgendjemand hat sich das Video bestimmt unter den Nagel gerissen.«
91
Gegen fünf Uhr am Nachmittag hatte Striker die Brandywine Falls im Rückspiegel. Der Wasserfall war im trüben Dämmerlicht kaum auszumachen, der Canyon tief steingrau, dass er mit der Baumgrenze verschmolz.
»Wir sind bald da«, sagte er.
Felicia nickte abwesend. »Und was dann? Sollen wir auf einen Anruf warten, der vielleicht nie kommen wird? Oder willst du ihr eine E-Mail schicken in der Hoffnung, dass sie
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