Zornesblind
sie von ihm gesprochen hat? Der Doktor kommt gleich. Nicht mein Mann oder Erich , nein, der Doktor .«
Felicia ließ das Magazin sinken und nickte. »Stimmt, das war eigenartig. Ist mir auch aufgefallen.«
Daraufhin schritt er gedankenversunken in der kleinen Bibliothek auf und ab. Direkt vor ihm war ein großes Panoramafenster, das nach Norden zeigte, davor stand eine Sitzecke, in einer Nische der Gaskamin, den Lexa vorhin angemacht hatte. Draußen war es so dunkel, dass man nichts erkennen konnte, trotzdem tippte Striker, dass hinter dem Haus bestimmt ein riesiger Park war, von steil abfallenden Klippen eingeschlossen, und darunter wogte der Fjord.
Auf dem Kamin standen vier gerahmte Fotos. Eins für jedes Familienmitglied, vermutete er. Kein Gruppenbild, sondern jeder einzeln.
Eine Familie und trotzdem allein.
Auf dem ersten Foto war Lexa Ostermann. Sie lächelte über ihre Schulter. Verführerisch, bezaubernd, selbstbewusst. So wie vorhin in der Eingangshalle. Striker betrachtete das Bild lange und intensiv. Die Frau war umwerfend, und er hatte mit einem Mal ein mulmiges Bauchgefühl.
Felicia, die merkte, dass er das Foto anstarrte, ätzte: »Frag sie doch mal, ob sie nicht ein Passfoto für dich hat. Für deine einsamen Stunden.«
Striker überging ihre spitze Bemerkung. Er riss sich von Lexas Foto los und widmete sich dem nächsten. Auf der zweiten Aufnahme war ein junger Mann, so zwischen siebzehn und zwanzig – schwer zu schätzen. Er war schlank und drahtig, mit heller Haut und tiefgrünen Augen, als trüge er farbige Kontaktlinsen. Seine kohlschwarzen, kräftigen Haare waren wild zerzaust.
Felicia trat hinter ihren Kollegen und fixierte ebenfalls das Foto.
»Er sieht sehr ernst aus«, stellte Striker fest.
»Er sieht aus wie das Modell in der Axe-Deodorant-Werbung«, schwärmte Felicia.
»Na, wer von uns beiden ist hier scharf?« Er betrachtete die nächste Aufnahme.
Sie zeigte eine junge Frau. Attraktiv, genau wie Lexa. Und ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, die gleiche makellose Haut, die gleiche Augenform. Nur die Haare waren anders. Fast so schwarz wie die von dem jungen Mann und lang und dicht und glatt. Ihre Iris war dunkel. Dunkler als die ihrer Mutter – sogar noch schwärzer als Felicias. Das Lächeln auf ihren Lippen erreichte ihre Augen nicht, es wirkte gequält und irgendwie verkrampft.
»Sie ist schön«, sagte Felicia. »Die beiden jungen Leute könnten glatt Models sein.«
»Sie sieht traurig aus«, konstatierte Striker.
Sein Blick glitt zu dem letzten Foto, auf dem ein älterer Mann in die Kamera schaute. Er mochte Ende vierzig, Anfang fünfzig sein und schien sportlich gut in Form. Kurze Locken, rötlich braun wie sein gepflegter Oberlippenbart. Seine Augen waren unnatürlich grün – wie die des Jungen – und hinter einer runden Brille mit Horngestell versteckt. Der Mann machte einen seriösen, integren Eindruck.
»Dr. Ostermann, der Arzt Ihres Vertrauens«, meinte Felicia gedehnt.
Striker nickte. Seine Schritte hallten auf dem edlen Parkettboden. Auf den deckenhohen Holzborden zu seiner Linken drängte sich ledergebundene Fachliteratur. Mit Titeln wie: Verhaltensauffälligkeiten , Antisoziale Persönlichkeitsstörungen oder Posttraumatisches Stresssyndrom .
Striker grinste. »Sieht aus, als hätte das Vancouver Police Department bei den Schinken Pate gestanden.«
Felicia lachte hinter vorgehaltener Hand.
Auf den Regalen an der rechten Zimmerwand standen Fachbücher, die nichts mit Psychiatrie zu tun hatten. Sie waren nach Themen geordnet: Kapitalverbrechen, Mordfälle, Kriminalistik. Jede Menge Bücher über polizeiliche Ermittlungsverfahren und -techniken.
Er blätterte gerade durch ein Buch, das er noch von seiner Ausbildung her kannte – Handbuch Tötungsdelikte –, als hinter ihm eine Stimme erklang.
»Guten Abend, Detectives.«
Striker drehte sich um und erkannte den Wissenschaftler spontan wieder – es war der Mann auf dem Foto, Dr. Erich Ostermann. Er war noch durchtrainierter als auf dem Bild und erfüllte den Raum mit seiner Präsenz.
»Ich bin Dr. Ostermann«, stellte er sich vor. Seine Augen konzentrierten sich auf das Buch in Strikers Hand. »Wie ich sehe, frischen Sie Ihre Kenntnisse auf.«
Striker schmunzelte. »Erstaunlich, dass Sie diesen Titel in Ihrer Bibliothek haben – wir verwenden dieses Lehrbuch nämlich in der polizeilichen Ausbildung.«
Dr. Ostermann winkte ab. »Oh, es gehört Dalia. Das ganze Regal ist ihres.«
»Dalia?«,
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