Zornesblind
Haustür war nur angelehnt, erkannte er mit einem Blick.
Er schlug sich seitlich, in geduckter Haltung, zum Eingang, roch das eklig verbrannte Kaffeepulver. Und spähte ins Haus.
Sein Blick huschte über die dunkle Treppe, die nach unten führte. Irgendwo da unten waren die beiden Cops. Sie saßen in der Falle. Ahnten nichts von seiner Anwesenheit. Und von der Gefahr. Die Natter setzte den Plan in die Tat um.
Die Haustür war schwer, weil aus massiver Eiche. Er wusste das – immerhin hatte er die Tür selber eingebaut –, trotzdem schloss sie weich und geräuschlos, dank der gut geölten Aufhängung, die er in den Rahmen getrieben hatte. Er zog die Tür leise zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte von außen ab.
Eine Woge der Erregung flutete seine Sinne.
Der kritische Teil war erledigt. Er stellte seine Tasche ab, nahm die Metallklammern heraus und begann, sie in den Rahmen zu hämmern. Sechs Klammern: jeweils zwei für die drei dicken Holzverstrebungen in der Tür. Als das leise Surren des Akkuschraubers die Luft erfüllte, grinste die Natter hinter der dünnen Ledermaske.
Es geschah.
Es geschah wirklich.
Die schöne Flucht war fast geschafft.
45
»Alles klar, komm rein«, rief Striker seiner Kollegin zu. Felicia betrat den Raum. Sobald sie die Leiche sah, nahm ihr hübsches Gesicht einen bitteren Zug an.
»Sarah Rose?«, fragte sie.
Striker nickte und zeigte ihr die Fotokopie.
Sie warf einen kurzen Blick darauf und fasste sich ungläubig an den Kopf. Dann trat sie zu der Leiche und fragte: »Wie lange?«
Striker zuckte mit den Achseln. »Dem Geruch nach zu urteilen mehr als zwei Tage. Und noch keine drei Tage, wenn ich nach der Totenstarre gehe.«
»Also vor Mandy«, tippte Felicia.
»Wahrscheinlich. Schwer zu sagen. Mal hören, was die Gerichtsmedizin dazu meint. Die Frage ist: Warum? Warum Sarah und Mandy? Wussten die beiden irgendwas? War Eifersucht das Motiv? Eine Dreiecksbeziehung, oder hatte es irgendwas mit den Sitzungen in der Klinik zu tun?«
»Oder wurde Mandy als Nächste umgebracht, weil sie Sarah kannte?«, gab Felicia zu bedenken. »Weil sie wusste, was mit Sarah passiert war?«
Striker durchquerte mit langen Schritten den Raum und überlegte. Plötzlich blieb er stehen und lauschte mit schief gelegtem Kopf. Irgendwo hinter ihnen aus der Diele drang ein leise surrendes Geräusch. Es klang verdächtig nach einem Holzbohrer.
Felicia hörte es auch.
»Was ist das?«, fragte er.
»Klingt, als wären da irgendwo Bauarbeiter zugange«, meinte sie. »Vermutlich Sanierungsarbeiten.«
Er nickte. »Wir werden die Arbeiter nachher befragen, ob sie zufällig was gesehen oder gehört haben.«
Das Geräusch erstarb, und Striker konzentrierte sich wieder auf die Ermittlungen.
Er nahm ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Jacke und streifte sie über. Währenddessen informierte Felicia die Zentrale über den Leichenfund und die betreffende Adresse.
Striker blickte zu ihr. »Sag ihnen, sie sollen eine Fahndungsmeldung für Billy Mercury rausgeben – von wegen unverzüglicher Festnahme. Der Typ ist bewaffnet und gefährlich. Der knallt wahrscheinlich kaltblütig jeden Cop ab, der sich ihm in den Weg stellt.«
Felicia nickte und gab es durch.
Striker nahm seine Taschenlampe heraus. Während er die Leiche von Sarah Rose genauer untersuchte, fiel ihm etwas auf: In Verlängerung der Tischkante, in einer Ecke des Zimmers, lagen Tablettenröhrchen – weiße Etiketten, blaue Fläschchen.
Er durchquerte das Zimmer und hob sie auf. Las die Beschriftung. Alle enthielten das gleiche Medikament.
Lexapro.
Striker fiel ein, dass auf dem Küchenblock weitere lagen. Er ging zu der Miniküche und nahm jedes noch so kleine Detail in sich auf.
Sämtliche Röhrchen waren leer.
Er las die Aufschrift: hauptsächlich Lexapro. Und Effexor.
Genau wie bei Mandy Gill.
Er schlug sein Notizbuch auf und notierte sich akribisch die Packungsgrößen. Dann schaute er auf die Dosierung und stutzte. Es war exakt wie bei Mandys Medikation – und wieder die gleiche Verschreibungsnummer, die mit MVC endete.
Mapleview-Klinik.
Der Detective klappte sein Notizbuch zu und checkte die Umgebung. Im Gegensatz zu Mandy Gills verkommenem Apartment war Sarah Roses Wohnung angenehm sauber und aufgeräumt. Ein paar angekrustete Teller in der Spüle, ein bisschen herumliegende Schmutzwäsche, ein Staubsauger, der mitten im Zimmer stand. Aber das war normal. Mandys Apartment war dagegen ein einziges Dreckloch gewesen:
Weitere Kostenlose Bücher