Zu cool für dich
Wie-werde-ich-beruflich-und-privat-ein-besserer-und-erfolgreicherer-Mensch-Ratgeber entnommen hatte. Wobei mir auffiel, dass diese Bücher wohl nichts für die Augen der Öffentlichkeit waren, denn im Wohnzimmerregal standen sie jedenfalls nicht.
Nachdem wir ein, zwei Cracker gemümmelt hatten, leitete sie unser niveauvolles Gespräch also mit der Frage ein: »So, Remy, wie denkst du über die derzeitigen Wahlen in Europa?«
Ich nahm gerade einen Schluck Gingerale und war sehr dankbar dafür. Doch irgendwann musste ich ja antworten. Deshalb sagte ich schließlich: »Ich habe die Nachrichten in letzter Zeit nicht so genau verfolgt.«
»Aber es ist wirklich interessant«, belehrte sie mich. »Christopher und ich sprachen vorhin noch darüber, wie der Ausgang der Wahlen die weltweite Wirtschaftslage beeinflussen könnte. Nicht wahr, Liebling?«
Mein Bruder schluckte seinen Cracker runter, räus perte sich und antwortete: »Ja.«
In dem Stil ging es weiter. Im Lauf der nächsten Viertelstunde führten wir ähnlich aufregende Diskussionen über Gentechnologie und Erderwärmung, über die Mög lichkeit , dass es wegen der Computer irgendwann keine Bücher mehr geben würde, sowie über eine australische Vogelart, die beinahe ausgestorben war; unser Zoo hatte allerdings kürzlich einige dieser Exoten erworben. Als wir uns endlich zum Essen an den Tisch setzten, war ich fix und fertig.
Jennifer Anne hatte Hühnerbrust mit Süßkartoffelfüllung und karamellisiertem Gemüse gemacht. Sah kompliziert aus – und gut, das schon. Allerdings war es eines dieser Rezepte, bei denen man einfach wusste, dass irgendwer stundenlang mit den einzelnen Zutaten rumgewurschtelt hatte, damit das Gericht auch gelang. Was hieß, dass dieser Jemand alles, was man sich nun in den Mund steckte, angefasst hatte.
»Das Huhn ist köstlich, Schatz«, sagte mein Bruder.
»Danke.« Jennifer Anne tätschelte seine Hand. »Noch etwas Reis?«
»Ja bitte.« Chris lächelte sie an, während sie ihm auftat. Mir wurde wieder einmal bewusst, dass ich meinen eigenen Bruder kaum noch kannte. Er saß da, als hätte er nie etwas anderes gemacht: beim Abendessen einen Schlips tragen, vom »guten Geschirr« essen (denn es war »das Gute«, ganz klar), sich von jemandem mit ausgefallenen Gerichten bekochen lassen. Aber der Schein trog. Und das wusste ich besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Schließlich hatten wir eine gemeinsame Kindheit verlebt, waren von derselben Frau großgezogen worden – einer Mutter, für die Kochen bedeutete, eine Dose Erbsen und Möhren zu öffnen, ein Fertiggerichtin die Mikrowelle zu schmeißen und am Ende ein paar vorgebackene Brötchen dazu zu servieren. Meine Mutter konnte nicht einmal Toast machen, ohne dass der Feuermelder losging. Es grenzt an ein Wunder, dass wir die Grundschule überstanden ohne an Skorbut zu erkranken. Doch wenn man ihn heute sah, schien all das absurd. Die Verwandlung von Chris, meinem kleinkriminellen Kiffer-Bruder, in einen kultivierten jungen Mann namens Christopher, der seine Hemden bügelte und einer viel versprechenden Laufbahn als Schmierstoffspezialist entgegensah, war beinahe vollendet. Es galt nur noch, ein paar kleine Macken zu beseitigen, wie die Warane. Und mich.
»Eure Mutter und Don kommen am Freitag wieder?«, erkundigte sich Jennifer Anne.
»Ja.« Ich weiß nicht mehr, was mich in dem Moment ritt – lag es an den ach so sorgfältig zubereiteten, gefüllten Hühnerbrüsten oder an der gekünstelten Atmosphä re , die den ganzen Abend über geherrscht hatte? Jedenfalls meldete sich plötzlich mit Macht meine schwarze Seele. Ich wandte mich an Chris: »Dir ist klar, dass wir es für dieses Mal noch gar nicht gemacht haben, oder?«
Weil er gerade den Mund voll hatte, konnte er mich nur fragend anblinzeln, bis er seinen Reis runtergeschluckt hatte: »Was?«
»Na, unsere Wette.« Ich wartete, dass er reagierte, aber entweder kapierte er nicht, was ich meinte, oder er tat so, als ob.
»Was für eine Wette?«, fragte Jennifer Anne. Wie überaus mutig von ihr: Sie ließ zu, dass das Gespräch von ihrem vorgefertigten Dinnerkonversations-Skript abwich.
»Nichts«, murmelte Chris. Er versuchte, mich unter dem Tisch zu treten, traf allerdings stattdessen ein Tischbein, so dass Jennifer Annes Butterdose klirrte.
»Vor vielen Jahren«, erklärte ich Jennifer Anne, während Chris noch einmal mit Schwung zutrat, aber nur meine Schuhsohle streifte, »als meine Mutter zum zweiten
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