Zu feindlichen Ufern - [3]
Nachtstunden vergingen, mondlos und kalt, und die See wogte in ihrem geheimen Rhythmus. Der Wind pfiff über das Deck. Hayden wurde nicht mehr richtig warm, aber die taube Kälte und die Schüttelanfälle hörten auf, auch wenn es Stunden gedauert hatte. Noch vor dem Morgengrauen erhoben sich die Männer und machten sich erneut daran, Holz und Tauwerk zu Flößen zusammenzufügen. Inzwischen musste auch dem Letzten klar geworden sein, dass das Schiff nicht mehr lange halten würde.
Als die ersten Strahlen des Tages über das Wrack fingerten, bot sich Hayden ein schrecklicher Anblick: Seeleute lagen reglos auf den Planken und konnten von ihren Kameraden nicht mehr geweckt werden. Griffiths, der französische Schiffsarzt und dessen Assistenten gingen von einem Mann zum anderen und untersuchten sie. Schließlich schleiften sie vor den Augen der Matrosen einige der reglosen Männer zur Reling und beförderten sie ins Meer, das die Leiber fortspülte. Nachdem die schreckliche Arbeit getan war, berichtete Griffiths, dass drei Dutzend Männer die Nacht nicht überlebt hatten.
Während der Himmel seine graue Farbe annahm, lief ein Zittern durch das gesamte Deck. Das Wrack drohte sich zu verziehen. Die Vorboten des Endes. Lacrosse eilte zu Hayden, erkundigte sich nach seinem Befinden und führte ihn schließlich möglichst weit von den Kameraden fort. Hayden befürchtete, dass der Franzose zusammenbrechen würde, so schwach wirkte er inzwischen. Lacrosse war bleich, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen, ganz so, als wollten sie den Anblick dieses furchtbaren Tages nicht mehr aufnehmen.
»Das Schiff wird nicht mehr lange halten«, begann er mit leiser krächzender Stimme. Dann beugte er sich nach vorn, verzog den Mund und stützte sich mit beiden Händen auf den Knien ab – der Schmerz des Hungers, wie Hayden sogleich erkannte, da er mehrmals während der Nacht dieselben Qualen hatte ertragen müssen. Langsam richtete sich Lacrosse wieder auf. »Wir können nicht mehr darauf warten, bis das Meer ruhiger wird. Das könnte ewig dauern. Meine kräftigsten Männer werden an den Riemen sitzen, aber ins Boot müssen zuerst die Kranken und Schwachen. Diese Männer können sich nicht mehr auf den Flößen halten und haben keine Aussicht mehr, auf dem Wrack zu überleben.«
»Ich bin Ihrer Meinung«, sagte Hayden. »All meine Männer sind gesund und haben an den Flößen gearbeitet. Sie werden niemandem Platz im Boot wegnehmen.«
Lacrosse neigte den Kopf zur Seite. »Ich hatte gehofft, dass Sie noch einen Mann empfehlen können, der das Kommando über das Boot übernehmen würde, Capitaine . Ich traue das keinem aus meiner Crew zu.«
»Nur mein Bootsmann Mr Franks und ich verfügen über so viel Erfahrung, aber Franks spricht kein Wort Französisch. Und ich werde meine Männer nicht auf dem Schiff im Stich lassen.«
»Ich habe einen Mann, einen guten Seemann, der sehr gut Englisch spricht. Ich würde ihn mit demselben Auftrag losschicken wie Ihren jungen Lieutenant Wig…«
»Wickham.«
»Ja. Er wird die Befehle Ihres Mr Franks an die Rudergasten weitergeben, wie es der junge Wickham gemacht hat.«
Haydens Blick wanderte hinaus über das Meer. Die Bedingungen waren noch schlimmer als am Vortag, als das kleinere Boot abgelegt hatte. Aber es käme einem Selbstmord gleich, an Bord des Wracks auszuharren.
»Ich spreche mit Mr Franks«, sagte er.
Steif und unbeweglich schleppte sich Hayden zu seinem Bootsmann, der immer noch die Arbeiten an den Flößen beaufsichtigte. Hayden verschaffte sich einen Überblick, sah die Flöße, die schon bereit zum Ablegen waren, und diejenigen, die noch nicht fertig waren. Doch er begriff sofort, dass gerade mal die Hälfte der Männer Platz auf diesen notdürftig zusammengezimmerten Planken finden würde. Die restlichen Crewmitglieder waren dazu verdammt, an Bord zu bleiben, in der Hoffnung, dass die Fluten sie mit dem Treibgut an Land spülen würden.
»Mr Franks …« Er winkte den Bootsmann zu sich. »Wenn Sie erlauben.«
»Sir?« Rasch hinkte Franks zu seinem Kapitän.
»Mr Franks, Kapitän Lacrosse braucht einen Mann, der die Ruderpinne des Beiboots übernimmt und das Kommando hat. Er möchte die kranken und schwachen Seeleute an Land schaffen. Auf seine Frage, ob ich einen geeigneten Mann in meiner Crew habe, empfahl ich Sie, Mr Franks. Ich denke, Sie verfügen über genügend Erfahrung für eine solche Aufgabe.«
Franks zögerte nicht. »Ich wäre bereit, Kapitän, aber ich
Weitere Kostenlose Bücher