Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu feindlichen Ufern - [3]

Zu feindlichen Ufern - [3]

Titel: Zu feindlichen Ufern - [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
bekam die Heckleine zu fassen, aber das Boot wurde in den Strudeln weggedrückt. Den Männern fehlte die Kraft, es festzuhalten. Sie gaben die Leine frei, um nicht ins Meer gezogen zu werden.
    Die Matrosen unten im Wasser versuchten, sich an dem umgestürzten Boot festzuhalten, das gefährlich an den Schiffsrumpf gedrückt wurde. Verzweifelt hangelten sie sich am Bootsrand entlang, kletterten übereinander, wobei manch einer in diesem Chaos den Halt verlor und unterging. Einige schafften es sicher zur Bordwand und wurden aus dem Wasser gefischt, aber viele Kameraden wurden fortgespült – das Letzte, was man von ihnen sah, waren bleiche, verzerrte Gesichter.
    »Mr Franks!«, rief Hayden. »Franks!«
    Die einzige Antwort waren die Schreie der Ertrinkenden, die nach und nach verstummten. Das Boot, die einzige Hoffnung auf Überleben, rissen die Fluten mit sich, bis der Kiel inmitten all der Gischt nicht mehr zu erkennen war.
    Von Entsetzen gepackt, verfolgten die Männer auf dem Wrack das Geschehen, das sich vor ihnen im Wasser abspielte. Sie hatten soeben gesehen, wie an die einhundert Kameraden Opfer der Fluten geworden waren, aber viel schlimmer war die Gewissheit, dass ihnen allen das gleiche Schicksal bevorstand.
    Die gespenstische Stille unterbrach Lacrosse mit dem Befehl, von der Reling zurückzutreten, ein Befehl, den die Männer nur zögerlich befolgten. Die meisten bedachten ihren Kapitän mit finsteren Blicken. Die britischen Seeleute fanden schließlich wieder zueinander und waren unversehrt – bis auf Franks.
    Archer sah mitgenommen aus. Hayden hatte seinen Ersten Leutnant noch nie so verzweifelt gesehen und rechnete damit, dass Archer schluchzend auf die Planken sinken würde – als hätte er einen Bruder verloren.
    »Mr Franks, Sir …«, begann er und rang um Fassung. »Mr Franks …«, setzte er erneut an und hielt sich die Hände vors Gesicht.
    Gould stand ein paar Schritte entfernt. Er wirkte nicht so verzweifelt wie Archer, blickte aber stumm und ergriffen hinaus aufs Meer. »Ist er – verloren, Sir?«, fragte er schließlich. »Gibt es keine Rettung mehr für ihn?«
    »Ich habe ihn aus den Augen verloren, Mr Gould, und es wäre ein Wunder, wenn er überlebt hat. Ich habe ihn in das Boot geschickt …«, er holte Luft, »… obwohl ich wusste, dass er nicht gehen wollte …«
    Kraftlos sanken die britischen Seeleute auf die Planken. Hayden war froh, dass keiner der Kameraden in dem Gedränge über Bord gegangen war. An die hundert französische Matrosen hatten den Tod gefunden – vielleicht sogar mehr.
    Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort. Schließlich war es Smosh, der ein Gebet für den Bootsmann sprach, mit einfachen, zu Herzen gehenden Worten, die die Männer berührten. Hayden war dem Geistlichen dankbar, dass er das Hinscheiden des Kameraden in würdevolle Worte kleidete. Falls ein solches Gebet etwas über die Maßgabe des Himmels aussagte, so war Hayden zuversichtlich, dass sein Bootsmann unter den Engeln wandelte. Franks war sicherlich kein optimal ausgebildeter Bootsmann gewesen, aber er hatte sich stets als gutes, loyales Crewmitglied erwiesen und war immer bestrebt gewesen, sich zu verbessern und sein Handwerk zur Zufriedenheit seines Kapitäns zu erlernen. Der arme Kerl hatte keine Familie, denn seine Frau hatte ihm keine Kinder gebären können, war krank geworden und letzten Endes gestorben. Franks hatte als armer Mann dagestanden, niedergedrückt von Schulden, die er für die Behandlung seiner Frau bei Ärzten gemacht hatte.
    Hayden vermochte nicht zu sagen, welchen Maßstab man an das Leben eines Menschen legte, aber Franks hatte es wahrlich schwer gehabt, so viel stand fest. Aber so erging es vielen Menschen. Dennoch, Franks hatte in seinem Leben keine Muße gehabt und wenig Annehmlichkeiten. Anerkennung war ihm so gut wie keine zuteil geworden, dafür mehr Kummer, als viele würden ertragen können. In dem großen Strom des Lebens hinterließ Franks’ Hinscheiden nicht mehr als eine kleine Verwirbelung. So lautete die harte Wahrheit. Hayden wusste, dass den meisten Menschen das Schicksal bevorstand, mit dem Übertritt in den Tod in Bedeutungslosigkeit zu versinken – auch er selbst machte da keine Ausnahme. In der Anonymität des Todes lösten sich alle auf. Sobald auch die letzten Bekannten eines Verstorbenen das Zeitliche gesegnet hatten, blieb nur noch ein in Stein gehauener Name – und viele durften nicht einmal auf einen Grabstein hoffen.
    Niedergedrückt von

Weitere Kostenlose Bücher