Zu feindlichen Ufern - [3]
bauen oder sich sonst wie nützlich zu machen.
Hayden winkte den Doktor zu sich und fragte ihn so leise, wie es im Wind möglich war: »Wie lange kann man ohne Nahrung und Wasser überleben, Doktor?«
»Es heißt gemeinhin, dass man mehrere Tage ohne Nahrung auskommt, aber das ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden. Aber ohne Wasser schafft man es nicht länger als vier Tage, höchstens. In dieser Situation nicht länger als drei Tage. Für April ist es ungewöhnlich kalt, Kapitän, und da wir alle bis auf die Haut durchnässt sind, wird uns der Wind unsere letzten Kräfte rauben. Ich zumindest zittere die ganze Zeit.« Einen Moment lang schien Griffiths über seine Antwort nachzudenken. »Auch wenn das jeden abstoßen wird, Kapitän, aber es ist möglich, den eigenen Urin zu trinken, da er aseptisch ist.«
»Hoffen wir, dass es nicht so weit kommen muss.«
Griffiths hatte offenbar noch mehr zu sagen, und daher blieb Hayden stehen.
»Sir, es ist nur noch ein Boot übrig, aber an Bord befinden sich noch an die sechshundert Mann. Wie viele werden das Ufer erreichen?«
»Dreißig, vielleicht ein paar mehr«, antwortete Hayden.
»Kommt es dann zurück, um andere zu holen?«
»Nicht, solange der Sturm anhält.«
»Also werden fünfhundertsiebzig an Bord bleiben?«
»Ja, aber wir werden Flöße bauen und versuchen, die Küste zu erreichen.«
Diese Aussicht schien den Doktor nicht zu beruhigen, im Gegenteil, er wirkte noch niedergeschlagener.
»Doktor, wenn wir es schaffen, das Boot noch heute loszuschicken, werden Sie dann mitfahren?«
Der Schiffsarzt schüttelte den Kopf. »Ich denke, mein Wissen wird hier noch benötigt, Kapitän. An Land gibt es genug Ärzte.«
Das Wetter änderte sich den ganzen Tag über nicht, der Wind zerrte am Schiff und an den Männern und spielte schiefe Tonleitern in dem geborstenen Holz. Die Crew konnte nicht mehr tun, als auf den harten Planken zu liegen und das Zittern zu ertragen. Hayden registrierte, dass er ab und an in eine Art Traum geriet. Er dachte dann oft an Henrietta und stellte sich vor, dass er ihr noch einmal begegnete und alle Missverständnisse aus dem Weg räumen könnte. Im Traum durchlebte er, wie die gegenseitige Zuneigung ihn mit Wärme erfüllte.
Doch immer wieder holte ihn die Realität ein, und mehr als einmal fragte er sich, ob diese elende Kälte letzten Endes schlimmer war als Hunger und Durst. Seine Muskeln schmerzten. Jeder Knochen in seinem Leib schien wehzutun. Ständig überkam ihn ein Zittern, das er nicht mehr kontrollieren konnte, und dann machte er sich an Deck so klein wie möglich und wippte vor und zurück. Um ihn herum stöhnten die Männer, murrten oder verfluchten ihr Schicksal. Hier und da beteten die Matrosen. Hayden hörte französische wie auch bretonische Gebete.
Er wusste bald nicht mehr, wie viel Zeit vergangen sein mochte, da seine Uhr nicht mehr ging. Wasser musste in das Gehäuse eingedrungen sein, und den Stand der Sonne konnte er nirgends ausmachen. Schließlich rappelte er sich erneut auf und machte sich auf die Suche nach Lacrosse, den er kurz darauf auf dem langsam zerbrechenden Quarterdeck fand.
» Capitaine Lacrosse, ich würde meinen Leuten gern auftragen, mit dem Bauen von Flößen zu beginnen. Je länger sie hier tatenlos herumliegen, desto verzweifelter werden sie sich fühlen, aber sobald das Wetter aufklart, sind wir vielleicht in der Lage, die Küste auf den Flößen zu erreichen.«
Lacrosse nickte. »Das ist klug, Capitaine Hayden. Ich werde meine Männer ebenfalls mit dieser Aufgabe betrauen. Leider konnten die Werkzeuge des Schiffszimmermanns bislang nicht gefunden werden, daher bleibt uns nicht viel außer unseren bloßen Händen. Und Taue, die brachen, als die Masten zersplitterten.«
»Ist nicht ein Enterkommando unter Deck gegangen, ehe wir auf das Riff liefen?«
Bei dieser Erinnerung verdunkelte sich die Miene des Franzosen, aber er nickte.
»Vielleicht liegen noch ein paar der Beile auf dem oberen Batteriedeck. Ich lasse meine Leute danach suchen.«
Hayden balancierte über das schräge Deck zurück zu seinen Männern und erklärte sein Vorhaben. Kurz darauf machten sie sich, steif gefroren, auf den Weg und kletterten über die letzte verbliebene Leiter hinunter ins Batteriedeck. Es stand fast komplett unter Wasser, und nur aufgrund der Neigung des Wracks blieb an einer Seite noch Luft zum Atmen. Das Wasser drang durch das abgebrochene Heck in den Rumpf, und bei jedem Wellenstoß stieg der
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