Zu feindlichen Ufern - [3]
diesen schwermütigen Gedanken, blickte Hayden hinüber zum Strand in der Ferne, von wo aus viele das Geschehen beim Wrack mitverfolgt hatten.
Erneut erfasste ihn das quälende Hungergefühl. Der Wassermangel drohte ihm die Sinne zu schwächen. Alle an Bord litten unter diesen Krämpfen. Kaum hatte das Ziehen im Magen nachgelassen, als Hayden wieder schmerzlich den Verlust von Franks spürte. Er fehlte ihm mehr denn je. Denn inzwischen gab es unter den Kameraden niemanden mehr, der über so viel Erfahrung verfügte wie Mr Barthe und Hayden selbst. Fortan war er gezwungen, alle Entscheidungen zu treffen, ohne vorher die Meinung eines erfahrenen Seemanns einzuholen. Und die einzige Entscheidung, die jetzt noch anstand, betraf die Flöße. Wann konnten sie sie zu Wasser lassen?
In all den Stunden hatte der Wind nicht nachgelassen. Das Meer war aufgewühlt wie eh und je, die Wellenkämme brandeten vom Wrack bis zur Küste. Hayden ahnte, dass sich ein Floß dieser Bauart überschlagen oder auseinanderbrechen würde. Bedenklich war auch, dass das gekenterte Beiboot südlich abgedriftet war und womöglich erst nach vielen Stunden an Land gespült würde, falls überhaupt. Genauso gut könnte eine Unterströmung es ins offene Meer ziehen. Wie lange könnte man sich an ein Floß klammern, das bei jeder Welle unterzugehen drohte? Sicher nicht lange genug, um die Küste zu erreichen. Wieder erschrak er bei dem Gedanken, dass dies seine letzten Stunden auf Erden sein könnten …
Lacrosse gesellte sich noch einmal zu ihm. Der Franzose sah ausgezehrt und totenblass aus, als litte er schon seit Jahren Hunger und Durst.
»Ich bin gekommen, um Sie um Vergebung zu bitten, Capitaine Hayden«, begann er schleppend. »Ich habe Sie gebeten, einen Ihrer Offiziere für das Beiboot abzustellen …«, er versuchte zu schlucken, »… und nun ist er gestorben, weil meine Crew sich nicht mehr zusammenreißen konnte. Meine Männer sind für seinen Tod verantwortlich – und für den Tod so vieler ihrer Kameraden. Das erfüllt mich mit Scham und Trauer.«
Hayden wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. »In dieser aussichtslosen Lage, Capitaine , können Sie als Kommandant nicht mehr auf Ordnung in den eigenen Reihen hoffen. Männer im Zaum halten zu wollen, die sich nichts mehr sagen lassen …« Er zuckte mit den Schultern. »Sie haben keine Möglichkeit mehr, für Disziplin zu sorgen, Capitaine . Es ist nicht Ihre Schuld, glauben Sie mir.«
»Vous êtes très gentil, Capitaine Hayden.« Lacrosse versuchte, seinen Gaumen zu befeuchten. »Einige meiner Leute haben mich um Erlaubnis ersucht, ein Floß zu benutzen. Ich habe es ihnen gestattet, doch ich machte sie darauf aufmerksam, dass sie keinen Erfolg haben werden. Gleichwohl sind sie fest entschlossen, den Versuch zu wagen. Wie denken Sie darüber, Capitaine ? Werden Sie die Flöße zum Einsatz bringen, die Sie haben bauen lassen?«
Hayden schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir müssen so lange warten, bis das Wrack wirklich auseinanderbricht. Denn ich bin Ihrer Meinung. Ein Floß wird in diesem Seegang untergehen.« Er deutete hinaus aufs Meer. »Ich habe beobachtet, wohin das Beiboot abtrieb. Es wird erst in ein paar Stunden an Land gespült werden. Männer auf einem Floß werden ins Meer stürzen. Und ich glaube nicht, dass sie sich lange genug an das Floß klammern können, um doch noch Land zu erreichen. Das schafft kein Mensch. Ich bleibe so lange auf dem Wrack, bis es auseinanderbricht. Jedenfalls besteht immer noch die Hoffnung, dass bis dahin der Sturm nachlässt.«
Lacrosse nickte, sein Blick war glasig, sein Gesicht gezeichnet von Schmerz und Entbehrung. »Ich fürchte, Sie haben recht, aber diese Männer dort haben ihre Entscheidung getroffen. Ich lasse sie ziehen. Wenn sie doch die Küste erreichen – dann wissen wir, dass man es schaffen kann. Wenn sie untergehen – dann erbarme sich Gott unserer Seelen.«
»Ja«, flüsterte Hayden. »Amen.«
Lacrosse begab sich zu den Männern, die bereit waren, das Floß zum Einsatz zu bringen. Sieben Mann insgesamt. Nachdem er den übrigen Seeleuten eingeschärft hatte, sich zurückzuhalten, damit nicht wieder Chaos ausbrach, fanden sich noch ein paar Matrosen, die den sieben Männern halfen. Es dauerte eine Weile, bis das Floß über die Bordwand gehoben werden konnte, doch schließlich glitt es in die Fluten. Die sieben Wagemutigen, die einzelne Fassdauben als Paddel benutzten, kletterten auf die schwankende Plattform
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