Zu feindlichen Ufern - [3]
soll denken, dass er mit der Post gekommen ist. Aber ihr beide dürft ihr das nie sagen, versprochen? Ihr müsst schweigen, solange ich lebe.«
»Oh, danke, Lizzie!«, sagte Cassandra sichtlich erleichtert. »Wir werden kein Sterbenswörtchen sagen, nicht wahr, Anne?«
Die beiden Schwestern waren so dankbar, sie hätten sich ihrer Cousine fast vor die Füße geworfen.
Elizabeth strebte zur Tür, blieb aber stehen, die Hand am Türknauf. »Aber merkt euch«, schärfte sie ihren Cousinen ein, »noch einmal werde ich nicht für euch lügen. Wenn ihr euch wieder mal in Schwierigkeiten bringt, müsst ihr euch selber helfen. Habt ihr mich verstanden?«
Elizabeth machte sich auf die Suche nach Penelope und war mit sich zufrieden. Sie war streng genug mit den Schwestern gewesen und hatte ihnen eine Lektion erteilt, auch wenn sie nicht genau wusste, worin diese Lektion eigentlich bestand. Sie musste jetzt zu einer Notlüge greifen und fühlte sich gar nicht wohl bei dem Gedanken. Andererseits, all die Mitwisser in dieser Angelegenheit hatten Stillschweigen gelobt – Elizabeth konnte sich also darauf verlassen, dass keines der Mädchen ihr Vergehen verraten würde.
Henrietta bestand darauf, an dem Tag nach der furchtbaren Nachricht nicht im Bett liegen zu bleiben. Im Gegenteil, sie zwang sich, einen möglichst »normalen« Tag zu verbringen, und bat ihre Cousine, ihr bei einem Spaziergang Gesellschaft zu leisten.
»Er hat mein Vertrauen missbraucht, mir das Herz gebrochen und mich der schlimmsten Erniedrigung ausgesetzt, und trotzdem bin ich so verzweifelt und betroffen, wie ich es auch gewesen wäre, wenn er mir nichts von alledem angetan hätte. Ein Teil von mir sollte vielleicht denken: So, Charles Saunders Hayden, jetzt hast du bekommen, was du verdienst! , aber ein solches Denken liegt mir fern. Wenn nichts vorgefallen wäre – kein Treuebruch, keine Vermählung mit dieser Fremden –, ich könnte nicht verzweifelter sein.« Henrietta schüttelte den Kopf.
An diesem Morgen hatte sie eigenartigerweise keine Tränen mehr vergossen, als wäre ihr Reservoir in der Nacht erschöpft gewesen. Denn sie hatte kaum geschlafen. Sie war auffallend blass, ihre Augen waren gerötet und leicht aufgequollen. Selbst ihre schöne, melodiöse Stimme klang dünn und brüchig, und Henrietta ging leicht nach vorn geneigt.
»Du warst verliebt in ihn, Henri. Ich glaube, was geschehen ist, ist schlimmer als der bloße Treuebruch. Sobald unsere Gefühle mit im Spiel sind, dauert es eben eine ganze Weile, bis sich diese Zuneigung wieder auflöst. Du wurdest von einem Mann enttäuscht, dem du vertraut und für den du viel empfunden hast, und nun hast du die Gewissheit, dass du den Mann verloren hast, den du heiraten wolltest. Das ist ein schwerer Schlag für dich, und dass du heute aufgestanden bist, spricht für deine innere Kraft, Henri. Nur wenige hätten sich so verhalten wie du.«
»Ich fühle mich aber nicht besonders stark, Lizzie. Mama hat uns nie verhätschelt. Wir durften nicht bei jedem Zipperlein im Bett bleiben. Da mussten wir schon halb im Fieberwahn sein, ehe sie uns erlaubte, das Bett zu hüten. Glaub mir, am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und mich eine Weile vor dieser Welt verstecken, aber ich traue mich nicht.«
»Nun, ich denke, die frische Luft wird dir guttun.«
Ein Lächeln deutete sich um Henriettas Mund an, doch schon im nächsten Moment war sie wieder sehr ernst.
Elizabeth hatte den abgefangenen Brief in ihrer Tasche und spürte ihn bei jedem Schritt, als bestünde er aus Holz und nicht aus Papier. Zwar kannte sie den Inhalt nicht, aber sie befürchtete, die Zeilen könnten ihrer geliebten Cousine einen weiteren herben Schlag versetzen. Im Augenblick war sie genauso entschlossen wie Cassandra und Anne, den Brief Henri nicht auszuhändigen. Tatsächlich spielte sie mit dem Gedanken, den Brief zurückzuhalten, bis die Umstände günstiger wären oder bis sich Henrietta ein wenig erholt hätte. Dann wiederum glaubte sie, kein Recht dazu zu haben, zumal sie Anne und Sandra genau in diesem Punkt einen Vortrag gehalten hatte. Der Brief gehörte Henrietta – im Guten wie im Schlechten. Aber sowie sie einen Blick auf ihre Cousine warf, hielt sie es für besser, ihr den Brief ein paar Tage vorzuenthalten. Was sollte noch passieren? Charles Hayden war tot. Der Brief würde gewiss nur noch mehr Kummer auslösen, und Henrietta konnte im Augenblick nicht mehr ertragen.
Sie gelangten an einen
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