Zu gefährlicher Stunde
auf und sah auf die Uhr.
Viertel nach fünf. Normalerweise würde Julia, die alleinerziehend war, um diese
Zeit zu ihrem Sohn Tonio fahren oder ihre Schwester Sophia Cruz anrufen, damit
sie sich um ihn kümmerte. Ich musste ihr Bescheid sagen.
Ich rief in der Wohnung in der Shotwell
Street im Mission District an, die Sophia und Julia gemietet hatten. Es
klingelte viermal, bis Sophia abnahm. Sie klang beunruhigt.
»Sharon, Gott sei Dank! Ich versuche
seit Stunden, Jules anzurufen. Immer sprang der Anrufbeantworter an, und ihr
Handy ist ausgeschaltet.«
Wie ich vergaß auch Julia gern, ihr
Handy einzuschalten, doch warum waren Ted oder die anderen nicht ans Telefon
gegangen? »Wann haben Sie im Büro angerufen?«
»Gegen halb vier, als die Polizei mit
dem Durchsuchungsbefehl kam.«
Um diese Zeit waren wir alle im Meeting
gewesen. »Haben Sie eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein, ich war zu durcheinander. Der
Durchsuchungsbefehl galt für unsere Wohnung und den Lagerraum. Ich musste die
Polizei hereinlassen, und sie haben einen Haufen Zeug aus dem Lagerraum
mitgenommen und mir eine Quittung gegeben. Lauter Zeug, von dem ich gar nichts
wusste, und ich kann nicht glauben — «
Die Worte sprudelten nur so aus ihr
heraus. Ich sagte: »Ganz ruhig, Sophia. Was für Zeug?«
»Ungeöffnete Pakete von Versandhäusern.
Auch offene Pakete. Computerkram. Schicke Klamotten.«
Lauter Zeug, das man problemlos mit
einer gestohlenen Kreditkarte kaufen konnte.
»Was ist los, Sharon?«
»Sie müssen jetzt stark ein. Julia ist
verhaftet worden.« Ich erklärte ihr, was man ihrer Schwester vorwarf.
Sophia schwieg einen Moment. Dann
fragte sie: »Sie hat Ihnen aber doch gesagt, dass sie es nicht war, oder?«
»Sie hat mir gesagt, sie wisse nicht,
weshalb man sie verhafte.«
Wieder Schweigen. Anscheinend zweifelte
nicht nur ich an Julias Ehrlichkeit.
»Halten Sie sie etwa für schuldig?«,
fragte ich.
»Ich kann es nicht glauben. Und Stehlen
passt nicht zu Jules. Selbst als Teenager hatte sie zwar mit Betrügereien und
Dealen zu tun, aber gestohlen hat sie nie. Kommen wir zu dem Kerl, von wegen
Sex... Nachdem Johnny und sie Schluss gemacht hatten, war sie ziemlich down und
hat monatelang zu Hause rumgehangen. Vor ein paar Wochen fing sie an, wieder
abends wegzugehen, wollte Spaß haben und hatte ihn anscheinend auch.«
Was Männer betraf, hatte Julia einen
grauenhaften Geschmack.
»Sie meinen, sie hatte ein Auge auf
Aguilar geworfen?«
»Kann schon sein. Jedenfalls war sie
aufgeregt, als er sie zum Abendessen einlud. Und sie hat gesagt, sie würde
nachts vielleicht nicht nach Hause kommen, ich solle auf Tonio aufpassen. Nicht
dass ich mich beschwere, Julia hat eben ihre Bedürfnisse.«
Ich stellte mir Sophia vor: eine
unscheinbare Frau Anfang vierzig, deren Ehemann und die beiden Kinder längst
aus ihrem Leben verschwunden waren. Sie arbeitete bei Safeway an der Kasse,
spielte mittwochs abends in der Kirchengemeinde Bingo und kümmerte sich um
Tonio. Mehr tat sie nicht, soviel ich wusste. Dennoch war sie relativ jung.
Hatte sie denn keine eigenen Bedürfnisse?
»Na ja, ich nehme an, Sie sind für
Tonio verantwortlich, bis eine Kaution festgesetzt wird. Müssen Sie heute Abend
arbeiten?«
»Ja, aber die alte Dame von oben kann
auf ihn aufpassen.«
Tonio war ein aufgeweckter und
fröhlicher Achtjähriger, der gut in der Schule war und nicht darunter zu leiden
schien, dass man ihn zwischen den verschiedenen Betreuerinnen hin und her
schob, die Julia und Sophia bei der Bewältigung ihres komplizierten Zeitplans
unterstützten. Wir in der Firma hatten ihn gern und forderten Julia sogar auf,
ihn mitzubringen, wenn sonst niemand Zeit hatte. »Falls ich irgendwie helfen
kann — «
»Nein, nein, ich kriege das schon hin.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, sah ich
auf die Uhr. Die Mühlen des Gerichts mahlten langsam. Es konnte Stunden dauern,
bis Glenn auftauchte, um mir mitzuteilen, was er herausgefunden hatte. Ich
könnte die Akte Aguilar lesen. Ich könnte mich durch den wöchentlichen
Papierkram wühlen.
Ich könnte mir aber auch die Poststelle
ansehen.
Weil der Pier so groß war und so viele
Mieter beherbergte, hatte man in der Nähe des Vordereingangs eine Poststelle
eingerichtet, zu der Post und Paketdienste den Schlüssel besaßen. Nur ein
Mitarbeiter jeder Firma hatte Zugang zu dem Raum und holte die Lieferungen ab.
In unserem Fall war das Ted.
Er saß hinter seinem Schreibtisch über
einem Kreuzworträtsel. Seit
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