Zu Grabe
Sie nickte, schnäuzte sich, und zum ersten Mal an diesem Tag huschte so etwas wie ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich habe das Gästezimmer für dich hergerichtet«, sagte sie. »Pack doch erst einmal in Ruhe aus, und ich mache uns in der Zwischenzeit einen Tee.«
Als Morell kurze Zeit später in die Küche kam, hatte Capelli heißes Wasser aufgesetzt und ein paar belegte Brote geschmiert.
»Ich dachte, du hast sicher Hunger nach der langen Fahrt.«
»Das kannst du laut sagen.« Morell griff sich ein Brot mit Eiaufstrich und biss herzhaft hinein. »Das tut gut. Magst du denn nichts essen?«
»Nein, ich habe keinen Appetit. Die Sorge um Leander schlägt mir ziemlich auf den Magen. Was für einen Tee möchtest du? Ich habe Kamille, Hagebutte oder Schwarztee.«
»Egal.« Der Chefinspektor griff nach dem nächsten Brot. »Ich nehme den gleichen wie du.«
»Ich mach mir einen Baldriantee, der beruhigt die Nerven. Bist du sicher, dass du auch so einen willst? Ich glaube nicht, dass der besonders gut schmeckt.«
Morell dachte an Valerie, den sterbenskranken Ficus, die lange Zugfahrt und das mehr als unbefriedigende Gespräch mit Weber. Seine Nerven konnten definitiv auch ein bisschen Beruhigung vertragen. »Ich probiere ihn einfach mal.«
Der Tee schmeckte tatsächlich scheußlich, aber er schien Nina gutzutun. Ihre Haltung entspannte sich, ihre Hände hörten auf zu zittern, und langsam bekam sogar ihr Gesicht wieder Farbe. »Was hast du denn heute herausbekommen?«, wollte sie wissen.
Morell biss von seinem Brot ab und musterte sein Gegenüber. Capelli schien sich wieder halbwegs gefangen zu haben, darum beschloss er, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ehrlich gesagt, sieht es im Moment nicht besonders gut für Leander aus. Weber, der leitende Ermittler, ist felsenfest von seiner Schuld überzeugt.«
Morell war noch nie sehr gut darin gewesen, Frauen richtig einzuschätzen. Capelli war nämlich alles andere als gefasst. Ihre Hände begannen wieder zu zittern, und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Aber keine Sorge«, bemühte Morell sich um Schadensbegrenzung. »Ich werde mich um die Sache kümmern. Gib mir ein bisschen Zeit … irgendwie werde ich Leander da schon rausholen.«
Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Versprochen?«
Mit ihren verquollenen Augen und dem hilflosen Blick sah die Gerichtsmedizinerin so zerbrechlich aus, dass der Chefinspektor es beim besten Willen nicht schaffte, seine Zusicherungen zu relativieren. »Aber natürlich!«, sagte er und bereute seine Aussage im selben Moment. Er machte hier gerade Versprechungen, von denen er nicht wusste, ob er sie auch halten konnte. »Morgen werde ich als Erstes dem Institut für Archäologie einen Besuch abstatten, um mir ein eigenes Bild von der Situation zu machen, und nachmittags besuche ich dann Leander.«
»Danke«, sagte Nina. »Du bist wirklich meine Rettung.« Sie versuchte zu lächeln. »Entschuldige, ich habe überhaupt noch nicht nach dir gefragt. Erzähl, wie geht es Valerie?«
Morell steckte sich schnell den letzten Bissen Brot in den Mund, um nicht darüber reden zu müssen. »Äh, alles okay«, nuschelte er. »Kann ich noch einen Tee haben?«
»Auf ihn sank Schweigen jetzt und Finsternis und Nacht.
Ein Grabgewölb’ zu dem den Schlüssel man verloren.«
Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen
Am nächsten Morgen war das Wetter immer noch trüb und grau. Während in Landau malerischer Altweibersommer herrschte, hatte sich in Wien grässliches Novemberwetter ein paar Wochen zu früh eingeschlichen. Morell, der auf dem Weg zum Archäologiezentrum war, schauderte. Er konnte dem berühmten morbiden Wiener Charme, von dem so viele Menschen schwärmten, nichts abgewinnen. Viele hielten es für ein Klischee, aber in seinen Augen war Wien tatsächlich eine Stadt, in der das Sterben besungen und dem Tod gehuldigt wurde. Nicht umsonst war eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Zentralfriedhof. Und wo sonst herrschte so reger Leichentourismus wie hier? Leute pilgerten durch die Stadt, um die Überreste der Habsburger zu besichtigen, die in ganz Wien verstreut lagen: die Herzen in der Augustinerkirche, der Rest der Eingeweide im Stephansdom und die einbalsamierten Körper in der Kapuzinerkirche. Menschen bezahlten Geld, um sich die Knochenberge unter der Michaelerkirche anzusehen, und standen Schlange, wenn das Bestattungsmuseum – übrigens das größte auf der ganzen Welt – Probeliegen im Sarg
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