Zu Grabe
wollte sich gar nicht erst vorstellen, welche Dokumente diese Ordner enthielten – sie waren eine einzige Chronik von Grausamkeit und Gewalt.
»Warum bist du hier, Otto?«, wiederholte Weber ungeduldig.
Impulsiv und hektisch wie eh und je, hätte Morell ihm am liebsten gesagt, hielt aber den Mund. »Ich bin wegen Leander Lorentz gekommen«, antwortete er stattdessen.
Weber lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Da bin ich aber mal gespannt. Was weißt du über den Mistkerl?«
»Leander ist kein Mistkerl. Er ist ein guter Freund von mir, und ich bin gekommen, um dir zu versichern, dass er mit dem Mord nichts zu tun hat.« Morell betrachtete voller Mitleid den kleinen Weihnachtskaktus, der einsam und vernachlässigt am Rand von Webers Schreibtisch vor sich hin trocknete.
»Und was macht dich da so sicher?«
»Wie schon gesagt: Ich kenne ihn gut. Er ist ein feiner Kerl, der keinem Menschen etwas zuleide tun könnte.«
Weber gab ein zynisches Lachen von sich. »Dasselbe wurde über Typen wie Charles Manson und Jeffrey Dahmer auch gesagt.«
»Du musst mir glauben, Roman. Ich kenne Leander wirklich gut, und ich versichere dir …«
»Ach papperlapapp«, unterbrach Weber ihn. »Von wegen du kennst Lorentz. Hast du denn in deiner Zeit bei der Kripo gar nichts gelernt? Man merkt es diesen Menschen nicht an. Es gibt Frauen, die erst nach zwanzig oder dreißig Jahren Ehe herausfinden, dass ihr Göttergatte kein liebevoller, fürsorglicher Ehemann, sondern ein kaltblütiger Mörder ist.«
»Aber …«, wollte Morell einwenden.
»Kein aber«, fuhr Weber ihn harsch an. »Ich weiß ja nicht, wie es in deinem kleinen weltfremden Dorf dort oben in den Bergen zugeht, aber hier spielt das wahre Leben, und das ist nun mal kein Streichelzoo.« Weber nahm einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und spuckte das schwarze Gebräu wieder zurück in die Tasse. »Bah, schon kalt«, fluchte er. »Ich hole mir schnell einen neuen.« Er stand auf und wedelte mit der Tasse. »Für dich auch?«
Morell verneinte, und als sein Exkollege die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er tief ein und ließ die Luft dann langsam wieder aus seiner Lunge entweichen. Es war ja noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Weber, dieser bornierte Sturschädel, hatte sich völlig auf Lorentz eingeschossen. Er würde alles daransetzen, ihn hinter Gitter zu bringen, und nun, da er wusste, dass der Verdächtige auch noch ein Freund von ihm war, würde er das sogar mit besonders großem Vergnügen tun.
Er beschloss, sich als Erstes um den kleinen Weihnachtskaktus zu kümmern, da er den Anblick der armen, durstigen Pflanze nicht länger ertragen konnte. Als er nach einem halbvollen Wasserglas griff, das auf dem Tisch stand, fiel sein Blick auf ein gerahmtes Foto, das Weber mit einer hübschen, brünetten Frau zeigte, die strahlend in die Kamera lächelte. Morells Magen zog sich zusammen – sogar der kleine Giftzwerg hatte eine Beziehung, was machte er selbst denn nur falsch?
»Ach, Valerie«, seufzte er und schüttete die Hälfte des Wassers daneben. »Kruzifix!« Er zog eine Packung Taschentücher aus seiner Hosentasche und fing hektisch an, die nassen Unterlagen abzutrocknen. Dabei stach ihm ein gelber Ordner, der mit dem Namen ›Novak‹ beschriftet war, ins Auge. Sollte er vielleicht einen kleinen Blick hineinwerfen? Nein, er würde auch nicht wollen, dass irgendjemand ungefragt in seinen Sachen herumschnüffelte. Andererseits war es eine einmalige Gelegenheit – die Kaffeeküche befand sich ganz am Ende des Flurs, und es würde sicher noch einige Minuten dauern, bis Weber wieder zurückkam. Morell griff nach dem Ordner und hielt die Luft an. »Der Zweck heiligt die Mittel«, murmelte er, schlug die Mappe auf und begann, sich die Aufzeichnungen durchzulesen. Beim Anblick der grausigen Fotos aus dem Arkadenhof kam ihm beinahe die Brotzeit, die er im Zug gegessen hatte, wieder hoch. Das war ja noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte.
Morell schreckte hoch, als Weber sich hinter ihm räusperte. Schnell legte er den Ordner zurück und starrte auf seine Hände. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der beim Schummeln ertappt worden war.
»Was machst du denn mit der Novak-Akte?« Weber setzte sich mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand auf seinen Stuhl.
»Tut mir leid, ich … ich …«, stammelte Morell. »Ich wollte nur kurz die arme Schlumbergera gießen … weil … die ist zwar ein Kaktus,
Weitere Kostenlose Bücher