Zu Grabe
Heiligenlegenden genauestens studieren. Wenn ein Heiliger verbrannt wurde, braucht man Asche und keine Knochen. Zudem muss man registrieren, welche Reliquien bereits offiziell vergeben sind. Man kann keinen Oberschenkelknochen vom heiligen Ignatius verkaufen, wenn der bereits in Rom liegt. Außerdem muss man darauf achten, wie der- oder diejenige gestorben ist. Wurde jemandem der Schädel eingeschlagen, muss auch ein Loch drin sein.«
Morell, der mittlerweile hellwach war, nickte. Was Lorentz erzählte, war logisch. Novak und Payer schafften also die Grundmaterialien an, während Uhl sie verarbeitete und weiterverkaufte. »Nur eines ist mir noch nicht ganz klar: Was ist mit den anderen Dingen, die auf der Liste standen?«
»Du meinst den Eisennagel, die Daumenschraube und die Terra Sigillata?«
»Genau. Das sind ja ganz offensichtlich keine Überbleibsel von Heiligen.«
»Nein, aber es sind wahrscheinlich Reliquien zweiter Klasse. Das sind keine direkten Teile der Person, aber Dinge, die sie berührt hat. Das sind meistens Gewänder, Foltergeräte oder die Waffen, durch die sie ums Leben gekommen ist.« Lorentz hielt inne. »O nein«, motzte er. »Mir wird gerade angedeutet, dass meine Zeit um ist. Ich muss leider aufhören. Sag Nina alles Liebe von mir.«
Gedankenverloren und noch im Pyjama schlurfte Morell in die Küche zu Capelli, die gerade dabei war, den Frühstückstisch zu decken. »Ich habe gerade mit Leander telefoniert«, sagte er.
»Wie geht es ihm?« Die Gerichtsmedizinerin schaute Morell mit großen, fragenden Augen an.
»Den Umständen entsprechend«, winkte er ab. »Gib mir bitte mal die Schachtel, die du aus Stimpfls Haus geklaut hast.«
»Wusste Leander, was es mit den Listen auf sich hat?« Capelli holte die Schachtel, stellte sie auf den Tisch und öffnete den Deckel.
»Höchstwahrscheinlich.« In aller Kürze erzählte ihr Morell von Lorentz’ Entdeckungen. »Nun müssen wir das noch überprüfen. Schau doch bitte mal im Internet nach, wann die heilige Margareta gelebt hat.«
Capelli tat wie ihr geheißen und wurde schnell fündig. »Die heilige Margareta von Antiochien starb im Jahr 305 in Pisidien den Märtyrertod. Ihr genaues Geburtsjahr ist nicht bekannt. Man nimmt an, dass sie ungefähr achtzehn Jahre alt geworden ist.«
»Alles klar.« Morell begann die Listen durchzusehen. »Wie sieht die 305 in römischen Zahlen aus? Dreimal das C und einmal das V? Ist das richtig?«
Capelli nickte.
Morell blätterte weiter und klatschte wenige Augenblicke später in die Hände. »Leander hat tatsächlich das Geheimnis um diese Listen gelüftet! Schau dir den dritten Punkt an: Costa vera, CCCV , f., 15–20.«
»Das wäre dann eine Rippe von einer Frau im Alter zwischen 15 und 20 Jahren, aus dem Jahr 305. Was exakt …«
»… auf die heilige Margareta passen würde«, vervollständigte Morell den Satz.
Capelli gab einen neuen Suchauftrag ein. »Die Gebeine der heiligen Margareta wurden laut dem Heiligenlexikon bereits im Jahr 908 von Antiochien nach Italien gebracht, wo sie im Kloster des heiligen Petrus in Valle beigesetzt wurden. 1098 holten die Franzosen die Überreste nach Frankreich, wo sich ihre Spuren dann verliefen.«
»Perfekt für Uhl«, stellte Morell fest. »Wenn keiner mehr weiß, wo die Reste von Margareta liegen, kann niemand beweisen, dass es sich bei den Knochen in Stimpfls Kirche nicht um die der echten Heiligen handelt. Und so wie ich Crazy Willie einschätze, ist es für ihn absolut kein Problem, sich eine erfundene Herkunftsgeschichte der Reliquien aus den Fingern zu saugen. Wahrscheinlich hat er sogar noch Spaß daran, seiner Phantasie irgendwelche abenteuerlichen Storys darüber zu entlocken, wie die Knochen in seinen Besitz gelangt sind. Sei doch mal so gut und schau nach, ob es auch Heilige aus dem 18. Jahrhundert gibt. Dann hätten wir nämlich eine Erklärung dafür, was Payer in den Katakomben getrieben hat.«
»Ja, es gibt einige: Josef Maria Tomasi, Maria Kreszentia Höß, Ignatius von Santhia und so weiter und so fort.«
»Keine Habsburger- DNA also, sondern schlicht und ergreifend einfach nur Knochen.«
Capelli fing an zu schmunzeln. »Diese Typen würde ich gerne mal kennenlernen. Die Idee, alte Knochen als die Überbleibsel von Heiligen zu verhökern, ist so durchgeknallt, dass sie fast schon wieder genial ist.«
»Wie sagt man so schön: Genie und Wahnsinn liegen meist sehr nah beieinander.«
»Wenn Stimpfl herausgefunden hat, dass er einem
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