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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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allen im Waisenhaus sehr beliebt und geachtet. Jeder kam mit seinen Problemen zu ihr. Die Kleinen ließen sich von ihr trösten, wenn sie hingefallen waren oder etwas kaputt gegangen war. Die Älteren teilten auch schon mal ihren Liebeskummer mit ihr. Und sie kochte prima.
    Ihre eigenen Kinder ermahnte sie: »Ich möchte keine Klagen über euch hören!« Das war natürlich blöd, dass wir immer Vorbilder sein sollten. »Anständige Mädchen« sollten wir werden. Aber da sie von den anderen so geachtet wurde, freute ich mich doch auf ihren Einzug, als sie schließlich ein Dienstzimmer im Obergeschoss des Waisenhauses bekam.
    Ich stand schon vor sechs Uhr früh auf, um ihr am ersten Morgen bei der Vorbereitung des Frühstücks für die etwa hundert Kinder im Waisenhaus zu helfen. Ich war stolz auf meine Mutter, als ich sie da in der Küche bei den riesigen Töpfen stehen sah. Dann merkte ich aber, dass sie mich nicht brauchte, weil sie ältere Mädchen zur Seite hatte, die bei ihr Kochen und Haushaltskunde lernen sollten, zur Vorbereitung für ihre Auswanderung nach Palästina. Ich war enttäuscht, ließ mir aber nichts anmerken und zupfte weiter die Johannisbeeren für die Marmelade vom Stängel, als sei nichts geschehen. Ich half ihr auch später noch öfter in der Küche, stand aber nie mehr so früh dafür auf.

    Nachdem wir uns gewaschen, angezogen und unsere Betten gemacht hatten, gingen wir jeden Morgen in den Speisesaal, wo wir eine halbe Stunde beteten. Die Jüngsten waren sechs und die Ältesten ungefähr siebzehn Jahre alt. Diese halbe Stunden Beten hat mir immer gut gefallen. Das war etwas so Ruhiges und Schönes. Ich mochte auch mein Gebetbuch gern. Die dünnen Seiten fühlten sich gut an und die Schrift war so liebevoll gezeichnet. Die Jungen waren zur gleichen Zeit mit einem Vorbeter in der Synagoge. Wir Mädchen brauchten keinen Vorbeter. Wir machten das selbst, während die Leiterin der Mädchenabteilung, Tante Ella, schon mit anderem beschäftigt war. Danach gab es Brötchen und Kakao und dann ging’s in die Schule.
    Auch die Schule war, wie das Waisenhaus, Teil der ›Israelitischen Religionsgemeinschaft‹, die frommer als die anderen leben wollte und sich von der jüdischen Gemeinde Frankfurts getrennt hatte. Ich habe darüber nicht groß nachgedacht, es war einfach normal, weil es alle um mich herum so machten. In der Schule lernten wir von Anfang an Hebräisch und nahmen regelmäßig den jeweiligen Wochenabschnitt aus der Thora durch. Am besten fand ich die Geschichten, die als Erklärungen zur Thora erzählt wurden - von irgendwelchen Gelehrten aus fernen Ländern, die alle möglichen Abenteuer zu bestehen oder Rätsel zu lösen hatten. Am Freitagabend, dem Beginn des Schabbat, wurde dann im Waisenhaus gefragt: »Wer kann eine Geschichte erzählen?« Und ich rief sofort: »Mach ich!« Die anderen Mädchen hingen an meinen Lippen. Manchmal erfand ich auch ein bisschen was dazu, doch ich dachte, das

werde der liebe G”tt schon verstehen. Denn wenn es langweilig wird und niemand mehr zuhört, hat er ja auch nichts davon.

    Hinten: Die zehnjährige Hanna (hinten links) und Cilly (9 Jahre, rechts) mit ihren jüngeren Geschwistern Jutta und Jossel 1934.
    Die Schreibweise G”tt ist übrigens kein Druckfehler, sondern gehört zu unserem Glauben. Das geschieht aus Achtung gegenüber dem Ewigen, dessen Namen man nicht aussprechen und von dem man sich auch kein Bild machen darf, wie es schon Moses und sein Bruder Aaron mit dem goldenden Kalb in biblischen Zeiten hatten lernen müssen.
    Â 
    Dass im Januar 1933 die Nazis mit ihrem ›Führer‹ Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kamen, habe ich anfangs gar nicht mitbekommen. Ich war da gerade sieben Jahre alt, immer noch eifersüchtig auf Hanna, und ansonsten vor allem damit beschäftigt, Freundinnen im Waisenhaus zu finden.

IN DER MITTE DER STRASSE
    Zu Chanukka, unserem Lichterfest im Dezember, schenkte Mutter Hanna und mir je eine Puppe. Sie hatte die beiden aufs Bett gelegt: Eine mit weißer und eine mit schwarzer Haut. Wir durften uns aussuchen, welche wir haben wollten. Ich rief, ohne nachzudenken: »Ich möchte die mit dunkler Haut!« Hanna war glücklich mit der hellen Puppe. So war es immer: Mich reizte das Neue, Unbekannte, Ungewöhnliche, während Hanna

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