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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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war Regina hellwach. »Das ist er! Auf so einen Mann habe ich gewartet!«, dachte sie. In der Hand hielt sie einen kleinen Zettel mit seiner Anschrift. Das Papier war zerknittert und die Tinte an einer Stelle verlaufen, aber sie konnte noch deutlich die Worte lesen, die er unter der Adresse für sie notiert hatte: »Ich will dich unbedingt wieder sehen! Dein Nazi.«
    Â 
    Dieser verliebte junge Mann war mein Vater. Eigentlich hieß er Ignatz, aber alle Freunde nannten ihn Nazi. Das Wort hatte damals noch keine andere Bedeutung als die freundliche Abkürzung seines Vornamens. Regina war meine Mutter. Und ich erinnere mich, wie stolz sie später zu mir gesagt hat: »Dein Vater und ich - wir haben aus Liebe geheiratet!«
    Bis ich Abschied nehmen musste von ihr, 1938, nach der Pogromnacht der Nazis in Deutschland, hat sie die ersten Liebesbriefe von meinem Vater bewahrt, alle unterschrieben mit: »In Liebe, dein Nazi.« Erst nachdem die deutschen Nazis unser Waisenhaus in Frankfurt gestürmt hatten, las sie mir einige der Briefe vor. In einem stand: »Ich soll das reichste Mädchen aus unserer Stadt heiraten. Aber das werde ich auf keinen Fall. Ich liebe nur dich!« Wenig später hat sie alle Briefe von ihrem geliebten Mann vernichtet. Sie sollten nicht den Nazis in die Hände fallen. Im November 1938 war das, ein Monat nach meinem dreizehnten Geburtstag.
    Meine Eltern waren sehr glücklich miteinander. Mein Vater verwirklichte noch als junger Mann seinen Traum und reiste nach Berlin, wo er sich einen Strohhut
kaufte, mit dem er sich später stolz fotografieren ließ. Meine Mutter mochte dieses Foto sehr. Aber der Rest der Weltreise hat nie mehr stattgefunden.

    Ignatz Levitus (27) und seine Frau Regina (20) in Frankfurt am Main 1922, drei Jahre vor Cillys Geburt.
    Nach ihrer Heirat verließen sie ihre kleine Stadt in jenem Teil des Landes, das 1918 zur Tschechoslowakei geworden war. Sie zogen nach Frankfurt am Main, um dort ihr Glück zu suchen. Doch behielten sie ihre tschechische Staatsangehörigkeit, sodass auch wir vier Kinder als Ausländer in Deutschland geboren wurden. 1924 kam zuerst meine ältere Schwester Hanna auf die Welt und 1925 folgte ich. Jutta wurde 1928 in Straßburg geboren, wo meine Eltern vorübergehend eine koschere Pension führten. Unser kleiner Bruder Josef

kam 1930 wieder in Frankfurt zur Welt, wohin unsere Familie inzwischen zurückgekehrt war.

    Cilly (links), ein Jahr alt, und Hanna (rechts) 1926 in Frankfurt am Main.
    In den ersten Jahren hatten meine Eltern keine finanziellen Sorgen. Mein Vater konnte mit den mitgebrachten tschechischen Kronen, die gut im Kurs standen, sogar mehrere Häuser in Frankfurt kaufen. Deren Verwaltung ermöglichte zunächst richtigen Wohlstand. Aber er war leider kein guter Geschäftsmann. Er begann, mit Aktien zu spekulieren. Nach dem großen Börsenkrach am ›Schwarzen Freitag‹ 1929 verlor er über Nacht allen Besitz. Plötzlich herrschte große Not bei uns daheim. Aus dem großen Haus mussten wir in eine kleine Wohnung umziehen.
    Als meine Mutter auch noch mit Josef schwanger wurde, schickten meine Eltern mich für eine Weile zu den Großeltern, die im ungarisch sprechenden Teil der Tschechoslowakei lebten. Dort gefiel es mir sehr. Ich war das einzige Kind und Oma und Opa verwöhnten mich von morgens bis abends. Am schönsten waren die Schabbat-Feiern am Freitagabend. Die ganze Woche bereiteten wir uns darauf vor. Im Garten gab es eine kleine Laube, die für mich zum großen Puppenhaus wurde. Dort schmückte ich ebenso wie im Wohnzimmer der Großeltern alles für den Schabbat, deckte einen kleinen Tisch und durfte sogar zwei Kerzen anzünden.
    Ich war fünf, als ich 1930 zu meinen Eltern und Geschwistern nach Frankfurt zurückgeschickt wurde, und sprach nur noch Ungarisch. Die deutsche Sprache hatte ich so gut wie vergessen. Alles hier erschien mir auf einmal fremd und kalt, meine Mutter und meine ältere Schwester Hanna blieben eigenartig distanziert.
Zuerst habe ich nur geheult und wäre am liebsten sofort zurück zu Oma und Opa gegangen. Aber dann kam mein Vater nach Hause, nahm mich auf den Arm und rief strahlend: »Wie schön, dass du wieder bei uns bist!« Und auf einmal kam es mir schon weniger schlimm vor. Ich hatte keine Ahnung, dass er zu der Zeit bereits sehr krank war. Doch dann war er plötzlich nicht mehr daheim und

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