Zu Staub Und Asche
aber wollte Daniel erst einmal sicher sein, dass Louise nicht etwa Stuart Wagg vernichtet hatte. Er hatte sich noch nicht überlegt, was er sagen würde, wenn er den Mann soweit unverletzt vorfinden sollte. Vielleicht sollte er unterwegs darüber nachdenken. Er würde weder bitten noch drohen, sondern lediglich sicherstellen, dass Wagg seiner Schwester nicht noch mehr Leid zufügte. Wenn Wagg Louise in Frieden ließ, würde sie nach einer gewissen Zeit sicher über ihn hinwegkommen. Mit schiefgegangenen Beziehungen hatte sie eine Menge Erfahrung.
Als Daniel in Crag Gill vorfuhr, war das Gewitter vorübergezogen und hatte nur noch einen kleinen, übellaunigen Nieselregen übriggelassen. Die Einfahrt war mit zwei schweren Eichentoren verschlossen, an die rechts und links eine zwei Meter hohe Weißdornhecke grenzte. Daniel griff nach einer Taschenlampe und setzte die Kapuze auf. Auf einem der Torpfeiler war eine Überwachungskamera angebracht.
»Stuart, sind Sie da?«, schwatzte er in die Gegensprechanlage. »Hier ist Daniel Kind.«
Keine Antwort.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche und rief seine Schwester an.
»Wie lautet der Code an der Einfahrt?«
»2011. Sein Geburtstag ist der zwanzigste November. Aber ...«
»Geh lieber wieder ins Bett.«
»Daniel, du bist verrückt! Es war wirklich nur eine Fleischwunde, das kann ich beschwören. Etwas Schlimmeres ... nein, das ist einfach nicht möglich.«
Während sie sprach, tippte Daniel die angegebenen Zahlen ein, doch die Tore bewegten sich nicht. Er versuchte es erneut. Nichts geschah.
»Hast du die Tore hinter dir geschlossen, als du weggefahren bist?«
»Natürlich nicht. Ich wollte nur noch weg, und zwar so schnell wie möglich. Etwa achthundert Meter vom Haus entfernt ist eine Ausweichbucht. Dort habe ich angehalten und dich angerufen.«
»Dann hat er das Tor also selbst geschlossen?«
»Ich nehme es an. Du machst dir Sorgen um nichts und wieder nichts.«
»Louise, du hast eine Küchenschere in ihn hineingepikst und ihn blutend zurückgelassen. Ich will vermeiden, dass du wegen schwerer Körperverletzung vor den Kadi zitiert wirst.«
Er schaltete das Telefon aus. Machte er etwa aus einer Krise ein Drama? Weder er noch seine Schwester reagierten an diesem Nachmittag wirklich rational. Zwar behauptete Louise, Waggs Verletzung könnte unmöglich schwer sein, aber möglicherweise machte sie sich auch etwas vor. Ebenso gut konnte Wagg das Tor geschlossen haben und anschließend zusammengebrochen sein. Nach Stichwunden kam es nicht selten vor, dass das Opfer noch eine Weile herumlief, als sei nichts geschehen, ehe es irgendwann tot zusammenbrach.
Zwischen einem der Steinpfeiler und der Hecke befand sich eine extrem schmale Lücke, durch die sich selbst ein Kind kaum hätte hindurchzwängen können. Daniel trat einige Schritte zurück, senkte den Kopf und versuchte den Durchbruch mit Anlauf. Die Zweige gaben kaum nach, und Dornen ratschten seine Jacke, doch Daniel schaffte es, das Hindernis zu überwinden. Etwas lädiert stand er schließlich auf der anderen Seite.
Es war zwar noch nicht einmal halb vier, aber das Tageslicht verblasste rasch. Im Lake District brach die Nacht im Winter früh herein. Vor Daniel lag das an den Hang geduckte Crag Gill. Bei seinem letzten Besuch, als Louise ihn mitgenommen hatte, um ihn Stuart Wagg vorzustellen, hatte sie erzählt, dass das Haus auf dem Grundstück einer weitläufigen, vierzig Jahre lang von einem alten Junggesellen bewohnten Villa erbaut worden war. Der Mann hatte das Anwesen am Tag der Krönung geerbt und von diesem Zeitpunkt an nichts mehr daran getan. Daher konnte selbst der eifrigste Denkmalschützer nichts einwenden, als Wagg die Ruine abreißen ließ. Er beauftragte einen schwedischen Architekten, sein Fantasieschloss zu bauen, und zwar tief im Grün versteckt, damit die Planungsbehörden geblendet würden. Dabei war die Größe des neu erbauten Hauses noch bescheiden im Vergleich mit einigen der Paläste am Ostufer des Windermere.
Daniel platschte über den unbarmherzig kurz geschnittenen Rasen. Rechts und links standen zwei gewaltige Rhododendren, deren nasse Blätter noch tropften. Mit Ausnahme einiger Farbkleckse von roter und weißer Winterheide in den Blumenrabatten schlief der Garten einen winterlichen Dornröschenschlaf. Die Auffahrt wurde von hohen Lampen gesäumt, die jedoch nicht brannten. Auch das Haus lag im Dunkeln. Daniels Taschenlampe war zwar klein, reichte aber aus, um sich zu
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